Das Jahrhundert der Hexen: Roman
ferne Krach der Stadt. Am anderen Ende versuchte gerade jemand, den Atem anzuhalten. Dieser Jemand konnte nicht sehr groß sein, dazu war das Brustvolumen zu klein.
»Ywha, bist du das?«
Verschreckt tuteten die kurzen Freizeichen los.
Klawdi schaute auf die Uhr. Unten wartete bereits ein Wagen auf ihn.
Mist.
Er hämmerte auf die Tasten. Glücklicherweise ging Mytez junior an den Apparat. Heiser und offenbar verschlafen. »Nasar?« Klawdi versuchte, seine Stimme möglichst natürlich und sorglos klingen zu lassen. »Hier ist Klaw. Wie geht's dir?«
»Danke«, brachte der junge Mann tapfer hervor. »Gut … Ich … Soll ich Papa rufen?«
»Nasaruschka«, sagte Klawdi, »ich muss jetzt gleich wegfahren … Ich wollte dich nur fragen, ob … Ywha ist nicht zufällig aufgetaucht?«
Eine Pause. O ja, hier hätte der Herzog seinen Meister gefunden. Von ihm könnte er noch lernen. Von diesem Nasar Mytez, zwanzigeinhalb Jahre alt.
»Nein«, stieß Nasar schließlich aus. »Soll ich Papa jetzt rufen?«
»Richte ihm einen Gruß von mir aus«, sagte Klawdi rasch. »Also dann, tschüs.«
»Tschüs …«
Wieder erklangen die vielsagenden Freizeichen. Was für ein Tag, dachte Klawdi müde. Ein wahrer Festtag des Telefonsignals!
Er wählte erneut. Der Wachhabende im Gefängnistrakt meldete sich prompt.
»Guten Abend, Kul, hier ist Starsh … Magda Rewer, Registrierungsnummer 712, will sie immer noch nichts sagen?«
Schweigen. Wirklich ein erstaunlicher Tag, dachte Klaw.
»Kul, die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, ist mir nicht gegeben. Sie sollten sie schon in Worte kleiden.«
»Herr Großinquisitor … Ich habe bereits vor zehn Minuten Herrn Hljur darüber informiert, dass …«
»Was?!«
»Magda Rewer, Nummer 712, hat sich das Leben genommen. Mit dem Zeichen des Spiegels … Ich bin bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen, Herr Großinquisitor, aber …«
»Verstehe. Setzen Sie Ihren Dienst fort, Kul. Was ich zu diesem Vorfall zu sagen habe, werde ich Ihnen persönlich mitteilen.«
Diesmal unterblieben die Freizeichen – der Wachhabende Kul wartete beflissen, bis Klawdi den Hörer aufgelegt hatte. Zeremonien!
Magda Rewer wäre so oder so zum Tod verdammt gewesen. Trotzdem gehörte einiges dazu, den grausamen und widerwärtigen Tod mit dem Zeichen des Spiegels zu wählen, bei dem man in der eigenen Scheiße ertrank. Gefesselt hatte die Hexe dagesessen, in dieser kleinen quadratischen Zelle, und all ihren Hass und ihre Niedertracht heraufbeschworen. Gespiegelt an der Wand mit dem Zeichen, brachte ihre eigene Teufelei sie ganz langsam um.
Oder war ihr doch ein schneller Tod beschieden gewesen? Schließlich war sie stark und böse gewesen, diese Magda Rewer. Vielleicht hatte sie ja doch einen leichten Tod sterben können.
Jemand klingelte sanft an der Tür. Halb angezogen ging Klawdi in die Diele hinaus. Sein Anblick brachte den vor der Tür wartenden Bodyguard in Verlegenheit. »Es hat bereits jemand vom Flughafen angerufen, Herr Starsh. Ob sie auf uns warten sollen oder nicht …«
»Sie werden sich noch etwas gedulden müssen«, meinte Klawdi ungerührt. »Ich werde ja wohl erst in meine Hosen schlüpfen dürfen, oder?«
Der Bodyguard schwieg höflich.
(Djunka. Dezember - Januar)
Nach diesem Abend fuhr er nie wieder zum Friedhof. Die nächtlichen Besuche am Grab brachten ihm doch keine Ruhe mehr, sondern fachten nur die Unruhe an, die sich in seinem Innern eingenistet hatte.
Juljok freute sich zwar darüber, doch schon bald schien ihn das seltsame Verhalten seines Freundes weit mehr zu beunruhigen als die bisherigen Friedhofsgänge.
Klaw wurde nervös. Jede unschuldige Berührung der Schulter ließ ihn zusammenzucken. Er fürchtete die Dunkelheit – wobei er gleichzeitig gierig zu den nächtlichen Fenstern hinausstarrte, in die Dämmerung hinein. Und der Ausdruck, der in solchen Minuten in Klaws Augen lag, gefiel Juljok in keinster Weise.
»Du … wenn was ist, sag's ruhig. Kann ja alles mal vorkommen. Brauchst du vielleicht einen Arzt?«
»Vielen Dank, Jul, mit mir ist alles in Ordnung.«
Eines Tages, als Juljok einmal eher vom Unterricht zurückkam als sein Freund, bemerkte er im Zimmer Spuren der Anwesenheit einer dritten Person, woraufhin er vermutete, Klaw hätte eine neue Freundin.
»Klaw, hast du heute ein Mädchen erwartet? Ich glaube, hier ist jemand gewesen, hat die Kekse aus der Schale aufgegessen, ein paar dreckige Fußspuren hinterlassen und ist dann wieder gegangen. Läuft deine
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