Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Zum ersten Mal sprach sie ihn heute mit Namen an. Hastig und vernuschelt, als fürchte sie, sich die Zunge zu verbrennen. »Klawdi, wir stehen vor ungeheuren Problemen … Mawyn, ich, wir alle.«
»Ja?«
»Ja. Im Sommer nimmt die Sterblichkeit im Kreis traditionell zu. Unglücksfälle in den Bergen, im Meer … Vergiftungen, Schlägereien unter Jugendlichen … Der enorme Zulauf von Touristen … da ist es sehr schwer zu entscheiden … wann hinter einem Tod eine Hexe steckt. Aber … in den letzten zwei Wochen haben wir ein Dutzend Menschen verurteilt. Die Urteile sind noch nicht vollstreckt …«
Klawdi hüllte sich in Schweigen. Fedora hatte Angst. In der langen Geschichte der Inquisition ließen sich die Frauen, die für sie gearbeitet hatten, an den Fingern abzählen – von drei Händen. Die Frauen, die an solchen Stellen saßen, fielen in der Regel durch ihre Härte und Unnachgiebigkeit auf. Fedora verfügte über das eine wie über das andere. Doch jetzt hatte sie Angst, und Klawdi wollte sie nicht unterbrechen und eventuell noch weiter beunruhigen.
»Im letzten Monat hat sich das Niveau der frisch initiierten Hexen durchschnittlich verdoppelt, Patron … Wir haben es jetzt mit fünfundsiebziger und achtziger Brunnen zu tun … Es gibt eine nie da gewesene … Aggressivität … Und Zusammenrottungen. Früher kam dergleichen nie vor, da stand jede Hexe für sich allein … Aber jetzt …«
»Warum hat sich Kurator Mawyn damit nicht an Wyshna gewandt?«, zischte Klawdi mit einer seiner furchterregendsten Stimmen. Er spürte, wie Fedora weiter von ihm abrückte.
»Er …«, presste sie heraus. »Anfangs hielten wir das Ganze für einen Irrtum. Dann glaubten wir, es liege an unserer Unachtsamkeit, dass wir etwas übersehen hätten und es wieder geradebiegen müssten … Natürlich ist es nicht gerade angenehm … die eigene Unzulänglichkeit einzugestehen.«
»Ich hab schon verstanden«, sagte Klawdi mit seiner normalen Stimme. »Erzähl Mawyn nichts von unserem Gespräch. Er soll mir lieber von sich aus alles erzählen.«
Das Auto hielt vor einem schwach beleuchteten Gebäude, einem architektonischen Denkmal. Der älteste und schönste Palast der Inquisition im ganzen Land.
»Klaw …«
Er spürte, wie sie ihn am Arm zurückhielt.
»Klawdi … Du verstehst das doch, nicht wahr? Das, was hier vor sich geht? Du kannst dem doch Einhalt gebieten, oder?«
Die Tür öffnete sich. Der Fahrer machte eine respektvolle Verbeugung, die die Inquisitoren zum Aussteigen aufforderte.
Von ihrer Schwäche unangenehm überrascht, wollte Klaw schon etwas Beruhigendes und Vages antworten – doch in diesem Augenblick schien ihm die tote Hexe Magda Rewer aus der Nacht entgegenzustarren, mit zu Schlitzen verengten Augen. Das zerknitterte Kostüm fiel in Fetzen auf den Boden …
Er sah Fedora nackt vor sich. So, wie er sich an sie erinnerte. Weich und weiblich, mit schweren runden Brüsten und nach den heutigen Maßstäben zu breiten Hüften. An der rechten Schulter hatte sie ein Muttermal, aus dem antennengleich ein schwarzes, starres Haar herausragte.
Was bist du bloß für ein geiler Bock! Solche Phantasien, in Gegenwart von zwei Untergegebenen!
»Steig aus!«, sagte er scharf. Zu scharf. Fedora zuckte zusammen, doch er machte keine Anstalten, einen sanfteren Ton anzuschlagen. Der Kampf mit sich selbst dauerte eine lange Minute und trug ihm ein paar neue graue Haare ein. Gut, von nun an würde er härter sein. Sowohl mit Fedora als auch mit ihnen, den Gefährtinnen der toten Magda Rewer – egal, wie viele von ihnen er in dem herrlichen Kreis Odnyza orten mochte.
(Djunka. Februar - März)
Eine Woche vor Winterende hatte er einem Bekannten den Schlüssel für das Bootshaus im Sportzentrum aus den Rippen geleiert.
Unter der Decke brannte ein Glühbirne, umhüllt von einem Schirm aus Spinnennetzen. Tote Fliegenkörper warfen überproportional große Schatten an die furnierten Wände. Die Spiralen eines elektrischen Heizgeräts glühten rot, in einer Ecke stapelten sich die orangefarbenen Rettungswesten zu einem kleinen Berg, an der Wand standen lackierte Ruder – stramm wie Soldaten. Klaw setzte sich auf das durchhängende Bett und wartete.
Ihm war unklar, woher sie eigentlich kam. Musste sie eine Grenze überschreiten oder versteckte sie sich einfach in den Weiden? Oder vielleicht unter Wasser?
Die Holzstufen des alten Hauses knarrten leise unter ihren nackten Füßen. Sobald er dieses Knarzen hörte,
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