Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Freundin im Wohnheim eigentlich barfuß herum?«
Klaw wurde nicht bleich, sondern blau. Zum ersten Mal kam Juljok der Gedanke, in ein anderes Zimmer überzuwechseln. Um von vornherein jeder Gefahr aus dem Weg zu gehen.
Vermutlich hätte er sich tatsächlich zu diesem radikalen Schritt durchgerungen, wenn er gewusst hätte, dass Klaw allmitternächtlich mit panisch verdrehten Augen aufwachte. Nacht für Nacht träumte er von dem Gesicht, das ihn aus dem Wasser durch das runde Fenster des schwarzen LKW-Reifens anstarrte – und zwar nicht lebendig und froh wie an jenem Sommertag, sondern bleich und reglos, verloren in dem dämlichen Seidenvolant des schweren Sargs.
»Hast du gerade mit der Tür geklappert, Jul? Als du ins Zimmer gekommen bist?«
»Nein … Ich dachte, das warst du.«
»Ich … ich bin im Bad gewesen …«
»Na, dann wird es Pynja gewesen sein, der sein Buch geholt hat. Was ist so schlimm daran?«
»Nichts … aber sein Buch, das liegt da …«
»Dann wird es jemand anders gewesen sein. Was ist denn bloß los?! Hast du Angst, beklaut zu werden? Du führst dich ja wie ein hysterisches Weib auf. Haufenweise Tabletten stopfst du in dich rein. Wenn du so weitermachst, hängst du bald an der Nadel …«
»Verpiss dich doch …«
In der nächsten schlaflosen Nacht gestand Klaw Djunka seine jämmerliche Feigheit ein, bekannte, dass er das Unbekannte fürchte; das, was sich zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein befinde und ihn mit Sehnsucht erfülle. Dabei lebe er doch nur noch, um an Djunka zu denken. Weshalb flößte ihm die Erinnerung an diesen Abend, als der Schneesturm getobt hatte, bloß solche Angst ein? Verübelte sie ihm seine Furcht? Wenn sie ihn jetzt hören könne, solle sie ihm ein Zeichen geben. Seine Liebe würde ausreichen, um jede Grenze zu überschreiten.
Nach dieser fiebrigen Beichte erbarmte sich seiner eine sonderbare Ruhe. Traumlos schlief er die ganze Nacht und wachte um sieben Uhr auf. Wie von der Tarantel gestochen.
Juljok atmete geräuschvoll. Sein Unterricht fing heute erst in der dritten Stunde an. Im Waschraum gegenüber rauschte das Wasser, ihre Mitschüler redeten und kicherten miteinander. Die üblichen morgendlichen Geräusche, an die er zu gewöhnt war, als dass sie ihn aus tiefem Schlaf hätten reißen können …
Da war allerdings noch ein Geruch. Ein seltsamer Geruch, der unangenehme Duft angekokelter Synthetik.
Er stand auf. Im Halbdunkel blinzelnd, tapste er hinter den Paravent, der das »Schlafzimmer« vom »Flur« trennte, und schaltete die Lampe auf dem Tisch ein.
Ein Schneesturm schickte seine Vorboten, Flocken trieben gegen die Scheibe.
Obwohl er noch nicht verstand, was eigentlich los war, war sein Hemd, eine Reaktion seines Unterbewusstseins, am Rücken bereits klatschnass.
Auf dem alten Holztisch, auf dem sich Konserven, Kekse, eine Kaffeekanne, Streichhölzer und Kernseife türmten, lag seit Urzeiten ein buntes Tischtuch aus Wachstuch.
Mitten in den daraufgedruckten Äpfeln und Tomaten, Zwiebeln, Nüssen und anderen Gaumenfreuden prangte jetzt ein schwarzer Brandfleck.
So etwas passiert, wenn du ein Bügeleisen auf ein Wachstuch stellst. Das Tuch trägt eine gekräuselte, schwarze Narbe davon, und es entsteht dieser ekelhafte Brandgeruch. Genau wie hier!
Nur dass derjenige, der vor Kurzem hier gewesen war, die Tischdecke weder mit einem Bügeleisen noch mit einem Lötkolben berührt hatte. Denn bei dem Brandmal handelte es sich um den Abdruck einer Hand. Die fünf Finger waren deutlich eingebrannt.
Klaw riss sich zusammen.
Juljok schnaufte noch immer. Aufmerksam lauschte Klaw und zuckte bei jeder Veränderung in Juljoks Atmung zusammen. Dann machte er sich daran, das Tischtuch ruckweise herunterzuziehen.
Die Dosen klapperten. Klaw fluchte lautlos und beeilte sich. Aus irgendeinem Grund glaubte er felsenfest, jeder fremde Blick auf diesen Abdruck löse ein nie gekanntes Leid aus. Zum Glück hatte der Tisch an der Stelle darunter kaum gelitten. Die wenigen Rußspuren kratzte Klaw verbissen mit einem Messer ab.
Während Juljok schlief, zog Klaw seinen Mantel an, gleich über seinen Pyjama, und schlüpfte aus dem Zimmer, eine kleine Zeitungsrolle an sich gepresst.
Als er zurückkam, ging der Geruch verbrannten Plastiks von ihm aus. Niemand hatte ihn beobachtet. Niemand würde je etwas erfahren.
An einer Ecke unterhielten sich fünf Mitarbeiter des Tschugeister-Dienstes bei einer Zigarette. Wer an ihnen vorbeiging, wahrte einen
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