Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
respektvollen Abstand. Klaw dagegen näherte sich ihnen mit einem breiten und einnehmenden Lächeln. »Gebt mir eine Zigarette, Freunde.«
    Konfrontiert mit fünf solchen Blicken hätte sich einer wie Juljok Mytez vor Angst in die Hosen gemacht. Klaw aber zuckte nur bescheiden die Achseln. »Ich bin ein armer Schüler, meine Eltern geben mir kein Geld für Zigaretten, was ja auch verständlich ist, oder?«
    »Stimmt«, erwiderte ein Schrank von einem Mann mit kurzen Beinen. Die breite Fellweste ließ seine Figur so gedrungen wie einen Tisch wirken. »Rauchen schadet der Gesundheit, und Schnorren birgt auch ein gewisses Risiko.«
    »Spiel dich nicht so auf«, meinte ein anderer amüsiert, der leicht gebeugt dastand und glasklare blaue Augen hatte. »Bist du überhaupt schon siebzehn?«
    »Nein«, erklärte Klaw, der sich nicht zu einer Lüge bequemen wollte. »Aber weil ich schon mit einer Frau geschlafen habe, könnt ihr mich ruhig für volljährig halten. Okay?«
    Vier der fünf schienen einen kurzen Moment lang irritiert. Der Fünfte, ein nicht mehr ganz so junger Mann mit braun gebranntem, faltigem Gesicht, nickte wohlwollend. »Das ist ein Argument. Hier.«
    Er legte eine kurze und dicke Zigarette in Klaws Hand, der ein Feuerzeug folgte. »Lass sie dir schmecken …«
    Klaw nahm den ersten Zug seines Lebens.
    Die vier, die ihn anschwiegen und ihm ihre eigene Verwirrung immer noch übel nahmen, erhielten prompt die Gelegenheit zur Revanche. Der Junge hustete, die Lungen rebellierten gegen den starken Tabak der Matros, aus seinen Augen schossen dicke Tränen.
    »Man soll den Mund eben nicht so voll nehmen!«
    »Wie war das mit der Frau? Ob wir dir das abkaufen sollen? Oder hast du dich da geschickter angestellt?«
    »Das werde ich deiner Schule melden! Wie läuft das? Gibt's bei euch noch die Prügelstrafe?«
    Seinen Brechreiz überwindend, nahm Klawdi Zug um Zug. Vor seinem inneren Auge vermoderte das Tischtuch mit der eingebrannten Hand. Wenn die Tschugeister das gesehen hätten …
    Er musste die Furcht vor ihnen besiegen, vor den Tschugeistern, diesen Killern von Njawken. Denn er war der Komplize einer Njawka und hatte das Beweisstück vernichtet. Von nun an würde Djunka mit ihm leben, das wusste er genau.
    Ihm war egal, was sie jetzt war. Hauptsache, sie würden zusammenbleiben.

3
    In der Metro sitzend, in eine Ecke gekauert, fand Ywha für rund sechs Stunden nervösen Schlaf. Um sie herum kamen und gingen Menschen. Sie träumte, jemand ziehe ihr die Tasche aus der Hand, man wecke sie, nehme sie fest, bringe sie irgendwohin … Panisch riss sie die Augen auf – und beruhigte sich, schlief wieder ein, während die trüben Lampen brannten, Fahrgäste ein- und ausstiegen, Tunnel an ihr vorbeizogen und sich in ihren Traum bald Stimmen mengten, die mal wie eine wütende Menge unter freiem Himmel, mal wie ein durchdringender Kinderchor klangen.
    Irgendwann wurde der Betrieb für die Nacht eingestellt, und ein mürrischer Alter in Dienstuniform forderte sie auf auszusteigen. Da war es ein Uhr nachts.
    Wo sollte sie jetzt hin? Verloren stand Ywha in einer völlig menschenleeren Straße unterm Sternenhimmel. Es roch nach Veilchen, das Geäst wogte beruhigend. Ywha hatte keine Ahnung, an welchem Ende der Stadt sie sich befand. An der Straße führte eine gelbe Mauer entlang, der sie nur folgte, weil ihr sonst nichts Besseres einfiel.
    Sie stieß auf Eisenbahngleise und ein paar abgekuppelte Güterwaggons, die hier aus irgendeinem Grund die Nacht verbrachten. Es roch nach Maschinenöl und schon wieder nach Veilchen. Der Wind trug den Geruch von Wasser heran, offenbar lag in der Nähe ein Fluss oder ein See. Sobald Ywha ein abgeschiedenes Plätzchen für sich gefunden hätte, könnte sie sich endlich richtig ausschlafen. Genau in diesem Augenblick beschlich sie das Gefühl, hier sei noch jemand.
    Ywha sah in der Dunkelheit nicht so gut und vermochte die Gedanken eines Menschen nicht so treffend zu erahnen, ihre Intuition war allerdings immer gut ausgeprägt gewesen, weshalb sie sofort verstand, dass sie hier nicht bleiben konnte. Hier sollte sie nicht schlafen – lieber nicht.
    Wie zur Bekräftigung dieses Entschlusses leuchteten in einiger Entfernung gespenstisch die weißen Augen von Taschenlampen auf.
    Ywha blieb stehen. Alle Ängste, die die horrorverliebte Phantasie der Menschen mit einsamen, verlassenen Orten in Verbindung brachte, fielen ihr prompt ein und verknäulten sich zu einem undurchdringlichen Ganzen.

Weitere Kostenlose Bücher