Das Jahrhundert der Hexen: Roman
verneinende Kopfbewegung. Ihr schien jetzt nie kalt zu sein, selbst wenn ihre Finger so eisig wie der Winter waren.
Als spüre sie seine Stimmung, drehte sie ihm den Kopf ein wenig zu. Sanft drückte sie seine Hand. »Klaw … verlass … mich … nicht.«
Das Zimmer war winzig klein. Zur Straße hin gab es einen halbrunden Balkon mit einem schiefen, verrosteten Geländer. Als Klaw zum Rauchen hinaustrat, wurde ihm sofort schwindlig, denn vierzehn Stockwerke unter ihm schossen unaufhaltsam zwei Ströme aus funkelndem Metall, bunten Lichtern und verärgertem Gehupe aufeinander zu, das zu ihm heraufdrang. Die Nacht schien sich hinter ein schmutziges, künstliches Licht zurückgezogen zu haben.
Djunka saß auf dem durchhängenden Sofa. Den Mantel hatte sie abgelegt, sodass sie nur den verfluchten schlangenfarbenen Badeanzug trug.
»Zieh den aus«, bat Klaw im Flüsterton. »Wir wollen ihn … verbrennen.«
Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, kam sie der Bitte nach. Sie streifte erst einen, dann den anderen Träger über die Schulter. Klaw, der sich nicht rechtzeitig umgedreht hatte, konnte den Blick nun nicht mehr von ihr wenden. In jenem Leben hatte er Djunka nie nackt gesehen. Deshalb konnte er nicht beurteilen, ob sie sich seitdem verändert hatte oder nicht.
Ihre Brust hob sich bleich gegen den Rest des Körpers ab. Und ihre Sonnenbräune schimmerte nicht bronzen, sondern war aschgrau. Oder spielte ihm da das Licht, das von der Straße hereinfiel, einen Streich?
Djunka erhob sich und rollte die Schlangenhaut über die Schenkel. Klaw blinzelte. Der Badeanzug verwandelte sich in einen nassen Schlauch, der ihr die Knie fesselte.
Hitze überkam ihn. Unwillkürlich griff er nach der Schnalle seines Gürtels. Djunka schleuderte den Badeanzug fort und erhob sich. »Klaw …«
Seine Nackenhaare sträubten sich. Fast hätte er aufgeschrien, so schmerzhaft knallten die beiden gleich starken, auch gleichermaßen erbarmungslosen Wissensströme in ihm gegeneinander.
Der geliebte Körper, seine Freundin, seine Frau. Das erste Mal …
Andererseits die nassen Haarsträhnen, die eisigen Hände, die Fußabdrücke im gefrorenen Sand, der erstickende Geruch der Blumen auf dem Grab und vor allem ihr Gesicht in dem breiten Trauerrahmen …
Er sah sie im Grab vor sich. Und er sah sie jetzt.
»Klaw … jag … mich … nicht … fort …«
»Das tu ich nicht«, stieß er mit trockener Kehle hervor. »Aber …«
»Hab keine Angst … Klawuschka, hab keine Angst. Ich liebe dich doch. Umarm mich, Klaw, ich sehne mich schon so lange danach …«
Er rammte sich die Zähne so in die Unterlippe, dass warmes Blut über sein Kinn rann. »Nicht jetzt, Djunotschka …«
»Klaw! Klaw …«
Ich kann das nicht, dachte er hilflos. Ich … kann das nicht.
Da stand Djunka vor ihm, mit fischkalten Händen, als oh sie zu lange im Flusswasser geblieben wäre.
Und das stimmte ja auch. Sie war zu lange dort drin geblieben.
Er musste sich zwingen zu glauben, dass die Zeit zehn Monate zurückgestellt worden war. Dass sie heißen Juni hatten, er morgen seine Prüfung ablegte und Djunka nach dem Baden einfach fror. Er musste sich zwingen, die Beerdigung und diesen schrecklichen Blumengeruch zu vergessen. Ganz genau wie den Geruch der Friedhofserde. Er musste es einfach vergessen. Auf der Stelle.
»Klaw …«
»Gleich, Djunotschka. Gleich …«
Dem Kuss haftete der Beigeschmack des Blutes an, das aus seiner verletzten Lippe troff.
»Klawuschka …«
Er presste die Zähne aufeinander. Er wusste, dass die Entscheidung gefallen war.
4
Das Telefon heulte mit langen Tönen. Das Telefon flehte mit jämmerlichen Seufzern: Komm zu mir, komm! Nimm den Hörer ab, das ist wichtig, davon hängt das Leben eines Menschen ab!
Nasar hörte die Bitte nicht. Er zog einfach die Schnur aus der Buchse, damit stellte er in seiner Welt wieder Ruhe und Stille her. Vielleicht schlief er aber auch nur.
Ywha ließ sich erschöpft auf die vom Dunst beschlagene Sitzbank in Priws Flur fallen.
Natürlich gab es auch hier ein Telefon, und zwar stand es auf einem kleinen Tischchen. Mit letzter Kraft stellte Ywha es wieder in seine ursprüngliche Position zurück, eine Seite zur Badezimmertür, eine Seite an der gegenüberliegenden Wand. Priws Wohnung war klein, der Flur nur schmal.
Hier in der Diele zog sie außerdem rasch ihre noch nassen Sachen an. Die Tränen hinunterschluckend schlüpfte sie in Jeans und Pullover. Ohne die Turnschuhe zuzubinden, entschwand
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