Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
sie zur Tür, sobald das Rauschen des Wassers im Bad aufhörte. Angst packte Ywha, fast so stark wie vorhin, in der nächtlichen Ödnis, zwischen den reglosen schwarzen Waggons.
    Sie rannte los. Die Tasche klatschte gegen ihren Hintern, als triebe sie sie an. Auf der Straße vor dem Haus stob eine Schar Kinder vor ihr auseinander. Ein alter Mann mit einer Einkaufstasche wäre beinahe hingefallen. Sie schlüpfte durch eine sich schließende Tür in einen Bus. Selbst als sie nach fünf Stationen wieder ausstieg, fürchtete sie noch, Priw würde sie einholen.
    Weshalb hatte sie sich ihm gegenüber so verhalten? Was hatte er ihr getan? War er nicht wirklich nett zu ihr gewesen?
    Und was würde geschehen, wenn er sie fände? Wenn er sich daranmachte, sie zu suchen?
    Und das würde er tun. Solche wie er verziehen dergleichen nicht. Und Priw schon gar nicht.
    Wenn Nasar wenigstens ans Telefon gegangen wäre. Diesmal hätte Ywha nicht geschwiegen. Inzwischen war sie so weit zu reden. Und sie war so weit, ihn demütig um etwas zu bitten. Nämlich darum, dass ihr Schwiegervater – Mist, ihr ehemaliger Schwiegervater –, sie als Haushaltshilfe einstellte. Eine Hochzeit konnte sie sich natürlich abschminken. Aber von nun an würde Ywha nicht mehr stolz und hochtrabend auftreten, denn sie war jetzt ein Niemand. Wenn Nasar keine Hexe lieben wollte, konnte er sie doch immerhin beschützen. Sich ihr – der Hexe – gegenüber mitleidig zeigen.
    Der schiefe Blick einer Frau, die an ihr vorbeiging, traf sie wie eine Ohrfeige. Ein mitleidig-angeekelter Blick, der einer jungen Herumtreiberin mit verheulten Augen und geröteter Nase galt. Ywha fühlte sich wie Spucke an der Bank, auf der sie saß. Widerwärtig anzusehen und aus hygienischer Sicht untragbar. Ob die Polizeipatrouille, die da gelangweilt die Straße entlangmarschierte, das verdächtige Mädchen wohl nach seinen Papieren fragen würde?
    Klar und deutlich hatte Ywha vor Augen, wie sie auf dem Revier landete. Eine obdachlose, arbeitslose Hexe, die sich der obligatorischen Registrierung entzog und mit der Faust auf den verstaubten Tisch des Polizeihauptmanns schlug. »Ich werde jetzt den Großinquisitor von Wyshna anrufen! Privat! Auf der Stelle! Dann dürfen Sie ihm Rede und Antwort stehen!«
    Die Polizeipatrouille kam näher. Ywha unterdrückte den panischen Wunsch wegzurennen. In ihrer Tasche grabschte sie nach einem Notizbuch, das sie auf der erstbesten Seite aufschlug, um sich in die Entzifferung ihrer miserablen Handschrift zu versenken. Ich bin ein beschäftigter Mensch, ein Mensch, der sich nur kurz auf eine Parkbank gesetzt hat, ein Mädchen aus der Provinz, das zum Studium hierhergekommen ist und, zugegeben, nicht gerade wie aus dem Ei gepellt aussieht, dafür aber enorm eifrig.
    Sie schielte auf die Schatten, die bis auf einen Zentimeter an ihre Turnschuhe herankrochen – aber nicht auf sie fielen. Ein gutes Zeichen …
    »Keine Angst, du Idiotin. Die können dir nichts anhaben.«
    Am anderen Ende der Bank hatte das Mädchen in dem Kleid Platz genommen, das nach einer Schuluniform aussah. Aus ihrem Wägelchen stieg der Appetit anregende Dampf heißer Sandwiches auf.
    »Du solltest mal dein Image wechseln«, blaffte Ywha.
    »Was?« Das Mädchen zog die Brauen hoch.
    »Dein Image.« Ywha verzog verächtlich den Mund. »Kauf dir eine Perücke und einen Schirm … Oder schmeiß dich in eine Lederjacke mit lauter Aufnähern und leg dir ein Motorrad zu. Deine Sandwiches kotzen mich nämlich langsam an!«
    Das Mädchen grinste. »Ich fürchte, wenn eine von uns das Image wechseln sollte, dann du «, sagte sie völlig ungerührt. »Am besten lässt du dich gleich heute noch registrieren. Da wird man dir gern helfen, dein Schicksal zu wählen. Eine Papierfabrik am Stadtrand und die väterliche Aufsicht der Inquisition dürften deinen Erwartungen vom Leben doch voll und ganz entsprechen, oder etwa nicht?«
    Ywha sagte kein Wort. Aus den schmalen Augen des Mädchens blickte sie ein erfahrenes, raubtierhaftes, weises Wesen an.
    »Was willst du?«, fragte Ywha hilflos.
    »Soll ich dir erzählen, wie die Registrierung aussieht?« Sie rümpfte die Nase. »Zuerst befehlen sie dir, dich nackt auszuziehen. Dann entkleiden sie deine Seele. Du wirst losplappern wie ein braves Mädchen, die Worte werden dir sogar aus den Ohren kriechen … Eine ganze Kassette wirst du vollquatschen … mit Sicherheit sogar mehr als eine. Dann kommt ein Kerl …« Das Mädchen krümmte sich wie unter

Weitere Kostenlose Bücher