Das Jahrhundert der Hexen: Roman
hätte.
»Du hast Angst vor mir.« Nachdenklich fuhr er sich mit dem Finger über die Unterlippe. »Hat schon mal jemand Angst vor dir gehabt?«
Ywha schluchzte.
Mit einer unmerklichen Bewegung beugte sich Priw vor, wobei er ihr Haar gegen das Sofa drückte, bis es ziepte. Ywha nahm den Geruch von Minze wahr, der von ihm ausging. Zahnpasta vielleicht, oder ein Kaugummi.
»Wir werden uns jetzt an deinem … Professorensöhnchen rächen.« Behutsam befreite er Ywhas malträtiertes Haar. »Gleich jetzt! Stimmt's, er ist ein Idiot?«
»Ja«, flüsterte sie, während sie gebannt in die schwarzen Augen mit den starren Pupillen blickte.
»Heulen wird er, wenn er erfährt, wie wir uns an ihm gerächt haben, oder etwa nicht?«
»Ja«, bestätigte Ywha flüsternd. Sie sah das bleiche Gesicht Nasars mit seinen zusammengepressten Lippen vor sich.
Priw meinte das völlig ernst.
»Du bist bestimmt müde«, presste sie heraus, sich an ihre Unentschlossenheit klammernd, »nach deiner Schicht.«
»Ich bin schon wieder topfit. Na, geh die Fische füttern. Nimm das grüne Handtuch. Die Schachtel mit dem Futter steht auf dem Regal neben dem Spiegel.«
Die Fische fraßen gierig.
Die Badezimmertür ließ sich nicht abschließen, an der Stelle des Schlosses klaffte ein Loch. Unsicher stocherte Ywha mit dem Finger darin herum. Warum machte sie sich bloß all diese Gedanken? Schließlich ging sie nicht zum Schafott. Sie war nicht zum Tode verurteilt. Sie stand nicht im Zentrum des Kreises tanzender Tschugeister, landete nicht in dem Plastiksack mit Reißverschluss. Befand sich nicht in den Verliesen der Inquisition. Oder in dem stickigen Büro, in dem die Hexen zur Registrierung antreten mussten, was angeblich eine grauenvolle Prozedur war.
Und Nasar? Was hatte er eigentlich von ihr erwartet? Blieb ihr nicht nur die Wahl zwischen Regen und Traufe? Sie wollte weder zur Registrierung noch auf den Scheiterhaufen. Und auch nicht auf den Strich. Obwohl … Verehrte Herren, besuchen Sie unser exotisches Bordell Hexensabbat im Bett. Sex auf dem Besen, verehrte Herren, Sie werden verzückt sein, Ihre Freizeit mit unseren temperamentvollen Hexen zu verbringen!
Sie wollte nur noch heißes Wasser. Inbrünstig schrubbte sie sich die Nächte ab, die sie in Wartesälen verbracht hatte, wusch sich den Geruch der Metro und den penetranten Duft des Deos vom Körper. Letzteres hing ihr zum Halse heraus. Drei Tage lang quälte sie sich jetzt damit. Sie würde ein anderes kaufen, und sei es von ihrem letzten Geld, gleich heute würde sie das erledigen.
Sie wollte sich häuten. Wie eine Schlange. Sich erneuern, das alte, überflüssige, glanzlose und zerlöcherte Leben fortwerfen – wie eine alte Socke. Und sich beispielsweise ohne Wenn und Aber in Priw verlieben, diesen anständigen Kerl.
Ohne Wenn und Aber. Für den einen Tag, der ihm bis zur nächsten Schicht blieb.
Der Reißverschluss an dem Plastiksack. Der Reißverschluss, die roten Fische, die gierig nach dem streng riechenden Futter schnappten. Die schrecklichen Überreste der Njawka im flach getretenen Gras. Die Strahlen des heißen Wassers …
»Du bist doch nicht ertrunken?« Priw klopfte taktvoll an die Tür. »Oder haben dich diese Piranhas etwa aufgefressen?«
Das grüne Handtuch war so groß wie ein Bettlaken. Ywha stand vor Priw, verhüllt wie ein Denkmal kurz vor der Einweihung. Ihre herabhängende Hand krampfte sich um die vom Dampf ganz feucht gewordene Kleidung.
»Warte.« Priw betrat das Bad und öffnete sich dabei die Hose. »Ich werde sie auch noch füttern.«
Einen Moment lang verharrte Ywha im dunklen Flur und lauschte auf das Rauschen des Wassers.
Eine halbe Stunde nach Beginn des Konzerts kamen sie vorm Stadion angerast. Überall auf den Tribünen sangen und klatschten die Leute. Die Masse, die versucht hatte, ohne Eintrittskarte hinter die Absperrung zu kommen, zerstreute sich allmählich, die Absperrung selbst, eine Kette aus jungen Männern in Uniform, lockerte sich ein wenig, löste sich hier und da auf. Über dem Spielfeld waberte bunter Rauch, über den, immer wieder in ihn ein- und aus ihm auftauchend, die grellen Lichter trunkener Scheinwerfer fegten.
»Du rührst dich nicht von der Stelle«, befahl Klawdi Fedora.
Im Minibus, in dem lauter bewaffnete Männer saßen, trat eine bedeutsame Stille ein. Wie in einem Gerichtssaal, kurz vor der Urteilsverkündung. Oder wie in einem Krankenhaus.
»Patron …« Mawyn hüstelte, über seine Brillengläser
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