Das Jahrhundert der Hexen: Roman
kannst dem doch Einhalt gebieten, oder?«
Als ob das nicht noch in den Sternen stand!
Plötzlich sackte das Flugzeug in ein Luftloch. Klawdis Magen hüpfte ihm hoch bis in den Hals. Zum Glück hatte er fast vierundzwanzig Stunden lang nichts gegessen. Andererseits brauchte er sich nichts vorzumachen: Selbst wenn er jetzt festen Boden unter den Füßen hätte, wäre ihm schlecht. Dieser Brechreiz würde ihn noch sehr, sehr lange quälen. Sein ganzes Leben lang …
Er hätte Mawyn zwingen sollen, die Verhöre selbst durchzuführen, sinnierte er böse. Schließlich war Mawyn der Kurator, da hätte er sich die Hexen ebenso gut vornehmen können. Und es hätte ihm bestimmt nicht geschadet, auch mal ein bisschen zu schwitzen. Sollte er doch an seiner eigenen Wohlanständigkeit ersticken. Oder an etwas anderem – das nun bei Klawdi blaue Flecken hinterlassen hatte. Striemen. Er hätte auch Fedora zwingen können, schließlich war sie eine harte Frau.
Mit einem Mal lächelte er schief. Mawyn hätte dieses Geständnis nicht aus der Hexe herausgeholt. Es tat ihm gut, sich die eigene professionelle Überlegenheit gegenüber seinen Untergegeben bewusst zu machen. Wie in diesem Witz von den Latrinenräumern: »Lerne, mein Söhnchen, du willst ja wohl nicht dein Lebtag bloß die Schlüssel besorgen.«
Das Flugzeug setzte auf der Landebahn auf. Bedauernd nahm Klawdi wahr, wie das Gefühl des Fluges dem irren Dahinrasen über den Betonstreifen wich. Jetzt würde er nach Hause fahren, das Telefon ausstöpseln und wieder zum Fisch werden. Im Traum. Wo es ebenso wenig dieses schmerzliche Vorgefühl gab wie Hexen oder auch ein Stadion, diese riesige Betonschale voller Menschenbrei, voller Menschenmatsch.
Es schüttelte ihn. Genau mit diesem Gefühl hatte er sich gestern in die Katakomben begeben. Heute gab es noch ein weiteres Bild: Tausende von Menschen stürzten panisch zu den Ausgängen. Frauen, Kinder, Jugendliche, eine Blutsuppe in einer Betonschale …
Das Flugzeug kam zum Stehen. Das reicht, ermahnte sich Klawdi. Diesen Gedankengang schalten wir mal lieber ab!
Daraufhin atmete er tief ein und rief sich das Szenario bis ins letzte Detail in Erinnerung. In allen Einzelheiten und Farben, bis hin zu der zerquetschten Brille unter einem der Sitze. Dann malte er sich aus, wie über das grelle Bild seiner Phantasie Risse krochen, als berste Glas. Und wie die Scherben klirrend auseinanderflogen. Erleichtert atmete er aus. Das war's.
Es regnete.
»Wie war es in Odnyza, Patron?«, erkundigte sich sein Bodyguard höflich.
»Ein Ferienort während der Hochsaison.« Klawdi lächelte. »Überall duftet es nach Magnolien. Nimm dir Urlaub, Saly, pack deine Frau ein und ab geht's …«
Der Bodyguard lachte. »Ich bin geschieden, Patron«, erklärte er, während er Klawdi den Wagenschlag aufhielt.
»Tatsächlich?« Klawdi zeigte sich erstaunt. »Hm … Irgendwie bereiten einem die Frauen doch nur Probleme. Und quasi jede zweite ist eine Hexe …«
Jetzt lachten beide.
Vor zwei Stunden hatte Fedora Klawdi zum Flughafen begleitet, ihn bis zur Gangway gebracht. Ohne ein einziges Wort zu sagen. Natürlich musste sie ihn laut Etikette begleiten. Denn Mawyn, der Kurator, kam dafür nicht in Frage, da Klawdis Besuch nicht offiziell, sondern lediglich ein Arbeitstreffen war. Genauer gesagt, ein Treffen, bei dem eine verdammt hässliche Arbeit erledigt werden musste.
Fedora hatte geschwiegen, und er war mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen. Er hatte sich danach gesehnt, allein zu sein, sich im Sitz zurückzulehnen und seine Wunden zu lecken. Damit es wenigstens so aussah, als habe er sein Gleichgewicht zurückerlangt.
»Halt die Ohren steif, Fedora. Arbeite. Richte den Kindern einen Gruß aus«, hatte er gesagt.
»Mach ich.«
»Gefällt es ihnen in Odnyza? Immerhin leben sie jetzt am Meer …«
»Ich glaube, es gefällt ihnen.«
»Auf Wiedersehen. Ich muss los.«
»Gute Reise … Klaw.«
Selbst als er später darüber nachdachte und alles zu analysieren versuchte, fand er keine Erklärung für den Ausdruck, mit dem sie ihn betrachtet hatte. Sah sie in ihm einen Henker? Vermutlich nicht, vermutlich machte sich da nur sein Argwohn bemerkbar. Einen Helden?
Einen ähnlichen Ausdruck hatte er einmal in den Augen ihrer Tochter bemerkt. Damals war das Mädchen fünf Jahre alt gewesen und ihre Mutter auf eine lange Geschäftsreise gegangen. Die Kleine hatte sie mit müdem und hoffnungslosem Blick angesehen, mit einem ganz und gar
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