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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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über den steinernen Rand.
    Zitternd schlug Ywha die Augen auf. Im Zimmer war es dunkel. Der Fernseher blinkte mit der roten Stand-by-Lampe, die Bäume, von den Straßenlaternen beleuchtet, warfen Schatten auf die Gardinen.
    »Bild dir nicht ein, dass du eine Wahl hast, du Idiotin. Es wird nur schlimmer, wenn man dich unschuldig verbrennt.«
    Wer hatte das gesagt?!
     
    Ein anständiger Mensch hätte noch heute den Hut genommen.
    Er jedoch saß da, starrte in die Tasse mit dem kalt gewordenen Tee und quälte mit seiner gesunden Hand eine ohnehin zerquetschte Zigarette. Er versuchte die letzten Worte Helena Torkas zu vergessen: »Danke, Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
    Und wenn er nicht gut gewesen wäre? Wenn er nämlich nicht so verdammt gut gewesen wäre, dann wäre Helena noch am Leben! Und das Theater wäre eventuell auch nicht niedergebrannt. Hätte sich einer seiner Untergebenen einen solchen Patzer erlaubt, hätte Klawdi ihn mit größtem Vergnügen an die Wand geklatscht. Umgekehrt würden seine Untergebenen jetzt schweigend abwarten. Morgen früh würde der Herzog anrufen und ihm mit Trauerstimme zum Ende der Opernsaison gratulieren, während er, Klawdi, ihm kühl mitteilen konnte, er werde sämtliche Befugnisse niederlegen und den Dienst quittieren.
    Kurzfristig hob sich seine Laune. Er stellte sich das Schweigen im Telefonhörer vor … und den Gesichtsausdruck des Herzogs. Wie eisig die Antwort ausfallen würde. Das Okay. Denn natürlich würde der Herzog seinem Ersuchen zustimmen.
    »Danke, Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
    Er presste die Handteller vors Gesicht. Helena, Helena … »Sie sind ein guter Mensch.«
    Aus. Jetzt war Schluss mit seiner Güte. Er konnte noch so sehr über das Ende seiner Dienstzeit phantasieren, über das Meer und das warme Odnyza. Wenn jemand davon begeistert sein würde, dann Fedora. »Bleib bei uns, ja, Klaw? Was brauchst du denn sonst noch?«
    Er konnte noch so sehr phantasieren. Eine mit dem Füller hingekrakelte Unterschrift – und schon bist du frei, die Verantwortung lastet nicht mehr auf dir, dein Dasein als machtgeiler Emporkömmling, den man in allen Fernsehkanälen mit Schimpf und Schande bedeckt, endet. Dann bist du unversehens ein ganz anständiger Mann, und nicht alles, was du getan hast, war schlecht.
    Jetzt war Schluss mit seiner Güte! Und auch mit seinen Träumen. Selbst wenn die öffentliche Meinung beschloss, er höchstpersönlich hätte das Opernhaus niedergebrannt, so würde er sein Amt behalten – bis man ihm den Stuhl vor die Tür setzte.
    Und auch Letzteres würde er nicht ohne Weiteres zulassen.
    Diese Hexen! Diese Luder! Und gleich fünf auf einmal. Natürlich aus der Boheme. Ein Kollektiv. Dieser Kopfschmerz! Dieser entsetzliche Kopfschmerz.
    Nein, vermutlich kam das von der Seele. Falls das, was Klawdi gerade peinigte, überhaupt einen Namen trug.
     
    (Djunka. Mai)
    In dem kleinen Zimmer wurde es allmählich dunkel. Über die weiße Decke krochen Lichtstreifen, ein trüb gespiegelter Abglanz des nächtlichen Lebens in dieser belebten Straße mit all den funkelnden Lichtern. Weit, weit unten lärmten zahllose Autos, was hier oben jedoch nur als tiefes, ununterbrochenes Gebrumm ankam.
    »Klaw?«
    In ihrer Stimme lag eindeutig Unruhe. Klaw umfasste seine Schultern noch fester und versuchte, tiefer in den knarzenden, durchgesessenen Sessel zu sinken.
    »Warum sagst du denn nichts, Klaw?«
    »Djunka«, brachte er mühevoll heraus. »Du … also …«
    Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sie ohne Umschweife gefragt: Wer bist du überhaupt? Bist du ein Gespenst, das in der Hülle meiner Freundin umherwandelt? Oder bist du das Mädchen, das ich seit zwölf Jahren kenne?
    »Djunka!« Er beleckte die Lippen. »Erinnerst du dich noch, wie wir zu den Blinden Tänzern gegangen sind? Ohne Eintrittskarten und …«
    Er stockte. Die Erinnerung war unerwartet lebendig, sie rührte ihn. Prompt wusste er nicht mehr, ob er Djunka dieser Prüfung unterziehen oder vor dem kalten Heute in das süße Gestern fliehen wollte.
    »Ich erinnere mich.« Er spürte, wie Djunka lächelte. »Stanko Solen hat uns ein Fenster aufgemacht und wir sind … durch den Bühneneingang … zu viert …«
    Klaw schloss die Augen. Es war ein Sommerabend gewesen, ein stickiger, brütender Abend. Einer von jenen, an denen man am liebsten in Unterwäsche zum Tanzen gehen würde. Das würde die Mädchen schockieren, und man würde den weichen Abendwind auf der Haut spüren;

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