Das Jahrhundert der Hexen: Roman
sobald die Mücken auftauchen, heißt es natürlich: die Beine in die Hand nehmen.
Dann war da aber auch die Diesellok, mit der turmhohen dunkelroten Visage und den beiden phosphoreszierenden orangefarbenen Streifen. Und mit dem Gitter, das wie ein Eisenbart vorragte. Klaw schauderte.
»Hat wirklich Solen das Fenster geöffnet?«, fragte er tonlos. »Wirklich er?«
»Aber sicher.« Djunka schien erstaunt. »Er hat doch im Westclub sauber gemacht … die hätten ihn rauswerfen können … wenn rausgekommen wäre, dass er uns reingelassen hat …«
Klaw schwieg. Vier Teenager, die ein nervöses Lachen unterdrückten und sich bei einer Skandalvorstellung einschmuggelten. Ein fünfter, der ihnen das Fenster öffnete. Zu viele wussten da Bescheid!
»Djunka!« Er sprach schnell, um weder ihr noch sich selbst Zeit zum Überlegen zu geben. »Was haben wir unter dem Fliederbusch neben dem Spielplatz vergraben? Nur wir beide? In der ersten Klasse?«
»Eine Vogelpfeife«, meinte Djunka verwundert, jedoch ohne zu zögern. »Eine Meise aus Ton, mit einem Loch im Schwanz. Wie dumm wir damals waren …«
Klaw ballte die Hände zu Fäusten. Was hatte er denn hören wollen? Welche Fragen, welche Erinnerungen konnten ihm denn beweisen, dass Djunka nicht Djunka war? Nach allem, was er … nach allem … War er denn blind? Schaffte er es ohne dieses dämliche Verhör nicht, zu erkennen, dass er seine Djunka vor sich hatte?
»Stimmt«, flüsterte er. »Wir waren damals dumm … Djun … Und woran … erinnerst du dich am besten?«
Djunka schwieg lange, und Klaw dachte schon, er habe seine Frage nicht klar formuliert, habe sie vielleicht zu nebulös gehalten.
»Meine stärkste Erinnerung ist«, antwortete Djunka schließlich mit leicht zitternder Stimme, »wie wir auf den Berg gestiegen sind. Damals, du weißt schon. An dieses Gefühl, wenn du nach und nach das riechen kannst, worauf es ankommt. An den Wind und …«
Ein eisiger Schauder rieselte über Klaws Haut. Auch er sah den Tag klar vor sich. Die Rücken der Berge, einer grün, einer blau, einer grau. Er empfand den Schwindel, spürte den Wind. Djunkas Hand hatte in der seinen gelegen, so klar und natürlich wie der Geruch des über den Stamm rinnenden Harzes.
»Wenn du nach und nach das riechen kannst, worauf es ankommt.«
Niemand außer Djunka hätte das so formuliert.
Niemand außer der echten Djunka.
»Djun, lass uns …«, er seufzte mehrmals, »… ein wenig auf den Balkon gehen. Wie … damals …«
»Lass uns aufs Dach klettern«, bat sie flüsternd. »Ja, Klaw … Bitte!«
In der Küche brannte Licht. Ywha tastete sich durch den dunklen Flur. Der Inquisitor saß in sich zusammengefallen am Tisch. Ywha machte den breiten Rücken mit der Kette hervortretender Wirbel aus, die halbrunde Narbe an der rechten Achselhöhle und den weißen Verband oberhalb des Ellbogens am linken Arm. Der Großinquisitor der Stadt Wyshna saß lediglich in Hosen da.
»Was ist, Ywha?«
Er hatte sich nicht umgedreht, sie hatte sich lautlos bewegt. Ob sie sich im Teekessel gespiegelt hatte? Oder hatte er sie gewittert? Wie ein Hund?
»Ich hab dir eine Decke aufs Sofa gelegt … Geh schlafen. Es ist drei Uhr nachts …«
Sie schluchzte auf. Er drehte sich um. An seiner rechten Brust prangte eine weitere Narbe, die der ersten genau gegenüberlag. Sie war etwas größer und ebenfalls halbrund.
»Allein halte ich es nicht aus«, flüsterte sie, wobei sie verzweifelt darauf bedacht war, dass sich ihre zitternde Stimme nicht überschlug. »Ich brauche jemanden … egal wen … in meiner Nähe. Vielleicht sollte ich rausgehen … Da sind Menschen … Ich kann einfach nicht allein bleiben, das ist eine Macke von mir, in meinem Kopf … da ist was ausgerastet … aber das geht wieder vorbei … falls ich nicht vorher völlig durchdrehe.«
»Das wirst du nicht.« Er legte sich den Bademantel über, den er vorher über die Stuhllehne geworfen hatte. »Lass mich nur was anziehen. Die erotische Vorstellung endet für heute.«
Im ersten Moment wirkte die Berührung erneut wie ein leichter Stromschlag.
»Wenn dir völlig egal ist, wer bei dir ist … Wenn dir das wirklich einerlei ist … dann kann auch ich diese Masse bilden. Ich kann sowieso nicht schlafen.«
Sie hatte heiße, trockene und kräftige Hände. Damals, in der Kunstschule, musste sie vor allem beim Töpfern Geschick bewiesen haben. Und bei der Bemalung der fertigen Kannen mit roter Farbe.
»Und dann hat sie gesagt, ich
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