Das Jahrhundert der Hexen: Roman
sekundäres Merkmal der Hexenschaft. So was kommt vor.«
Ywha hüllte sich in Schweigen. Die Hand, die auf ihrem Kopf lag, tat ihr überraschend wohl. Sie hatte Angst, sich zu bewegen und damit die Hand zu vertreiben.
»Es ist nämlich so, ich …« Sie verstummte. Bisher war es ihr gelungen, sich nicht direkt an den Inquisitor zu wenden. Jetzt wusste sie nicht, wie sie ihn ansprechen sollte. »Also … Sie müssen wissen, ich habe Angst … Angst vor mir selbst. Vor dem, was in mir sitzt. Verstehen Sie das?«
Die kräftige Hand rutschte von ihrem Hinterkopf. Und legte sich ihr auf die Stirn.
»Niemand sitzt in dir, Ywha. Dein potenzielles Schicksal, das ist auch ein Teil von dir, das bist du selbst … Wenn du keine aktive Hexe werden willst, passiert das aber auch nicht. Glaub mir.«
»Stimmt das wirklich?«
Ihr Gegenüber nickte.
»Ich verstehe … die Hexen«, sagte sie, nachdem sie laut durchgeatmet hatte. »Ich verstehe, woher dieser … warum alle sie hassen. Die Hexen … uns. Ich verstehe jetzt auch, wozu das …«
»Solange ich bei dir bin, wird dir niemand etwas tun.«
»D … danke.«
Ihre tiefe und heiße Dankbarkeit währte eine Minute, dann fühlte sich Ywha unwohl. Sie rückte von dem Inquisitor ab. »Ich … Habe ich etwas Dummes gesagt?«
»Nein. Ich verstehe dich. Was ist weiter passiert?«
Die Klassenlehrerin hatte ein schmales, nervöses Gesicht und einen starken, weißen Hals, der aus einem runden Blusenausschnitt herausragte.
»Du musst das einsehen, Ywha Lys. Niemand von uns will diese Herren in der Schule haben. Von der Inquisitionsabteilung für Minderjährige. Warum sollen wir die Angelegenheit auf die Spitze treiben? Man hat dir doch schon zweimal eine Vorladung geschickt, oder?«
»Ich bin keine Hexe. Sie lügen durch die Bank.«
»Gerade deshalb musst du zu ihnen gehen. Außerdem möchte ich mir vom Direktor nichts sagen lassen müssen. Der ist doch auch nicht auf Kritik von Seiten der Schulbehörde erpicht.«
»Ich bin keine Hexe! Was wollt ihr bloß alle von mir!«
»Werd nicht frech!«
»Ich geh da nicht hin. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen!«
»Es klagt dich ja auch niemand an. Aber nimm doch mal jemanden mit einer ansteckenden Krankheit … der wird auch bei der Gesundheitsfürsorge registriert. Es macht dir wirklich niemand einen Vorwurf.«
»Ich bin nicht ansteckend!«
Eine Fliege brummte durch den leeren Klassenraum. In Spiralen, Schlaufen und Kreisen. Sie knallte gegen das Fenster, nahm dann ihre Bahnen wieder auf. An der Tafel hing ein Schema des menschlichen Körpers, und die Fliege fing nun an, völlig orientierungslos über die eingezeichneten Gedärme des Menschen zu kriechen.
»Und dann?«
»An dem Abend bin ich abgehauen. Zu meiner Tante. Nach Rydna.«
In dem halbdunklen Café war die Luft graublau vom Tabakqualm. Ein Mädchen weinte, in die Ecke gekauert, in der zitternden Hand eine Mappe, die nicht zugebunden war, deren Schnüre vielmehr lose herabhingen. An die mit grauem Leinen bespannte Tafel kam aufgrund der vielen durchgedrückten Rücken niemand heran. Es roch nach Schweiß und Parfüm, vor allem aber nach Rauch.
»Hast du's geschafft?«, fragte der junge Mann mit dem braun gebrannten Gesicht, den hohen Backenknochen und dem Dreitagebart. »Hey, Rothaarige … haben sie dich genommen?«
Das rothaarige Mädchen fuhr zusammen. Seit einiger Zeit erschrak sie ständig, wenn sie jemand ansprach. »Ich bin … ich bin nicht zur Tafel durchgekommen.«
»Bist du so schwach?«, wunderte sich der Mann. »Wenn du willst, seh ich mal für dich nach.«
Die Rothaarige nickte.
»Wie war dein Familienname? Lys?«
Am Eingang keifte jemand. Oben stand, ganz in der Nähe der Wendeltreppe, ein ordentlicher junger Mann in einem blendend weißen Hemd. Er fand ein großes Vergnügen daran, zwei Stufen über den anderen zu stehen und mit weisem und müdem Blick auf sie, diejenigen, die gerade erst die Schule hinter sich hatten, herabzusehen.
»Hey, Lys! Stell den Schampus kalt und schwing das Tanzbein!«
Die junge Frau blickte verblüfft drein. Offenbar konnte sie es nicht glauben.
Irgendwo weiter oben, in einer selbst für den ordentlichen Jüngling unerreichbaren Höhe, öffnete sich eine Glastür. Ein fülliger Mann mit einer flachen Ledertasche winkte mit einem weißen Blatt Papier wie mit einem Taschentuch. Eilfertig nahm der Ordentliche das Papier aus den weichen Händen entgegen und las es mit gerunzelter Stirn durch.
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