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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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»Achtung, eine wichtige Durchsage!«, verkündete er. »Die Studenten des ersten Semesters wenden sich wegen des Wohnheims an … Die wehrpflichtigen Studenten melden sich in Zimmer fünf … Alle immatrikulierten Hexen …«, hier senkte der Student unwillkürlich die Stimme, während sich ein seltsamer Ausdruck in sein Gesicht schlich, »… haben persönlich beim Direktor zu erscheinen und das Dokument ihrer Registrierung bei der Kreisinquisition vorzulegen.«
    »Die nehmen Hexen«, keifte die verweinte junge Frau mit der offenen Mappe. »Die nehmen Hexen … Ist denn das die Möglichkeit?«
    Man sah sie mit mitleidsvollem Argwohn an.
    Denn bei Lichte betrachtet nahm man Hexen doch nirgendwo an.
     
    »Bleib bei der Wahrheit. Hexen sind zwar verschiedene Bürgerrechte entzogen, nicht aber das Recht auf einen Beruf.«
    Ywha brachte es gerade noch fertig, keine Grimasse zu schneiden. Es war schon erstaunlich, wie wenig diese bedeutenden Herren über das Leben wussten, das sich zu Füßen ihrer hohen Stühle abspielte.
    Einem Sprichwort zufolge wurde man alt, sobald man in seinen Erinnerungen lebte. Sie, Ywha, hatte sich damit heute den Titel einer ehrwürdigen Greisin verdient; diese Erinnerungen waren wie alte Kleider, die, mit Naphthalin behandelt, in einer verschlossenen Truhe ruhten. Und es war dumm, sie ans Tageslicht zu zerren.
    Noch dümmer war es allerdings, daran ein Vergnügen zu finden.
    Kein Spiel hatte Ywha mehr gehasst als das, bei dem man ehrlich antworten musste. Da hatte sie die ganze Zeit über geschwiegen – und wurde deshalb scheel angesehen.
    Später hatte sie gelernt zu lügen. Absolut offen zu lügen, wenn man ihr offene Fragen stellte. Und alle hatten sie geliebt. Ihr geglaubt.
    »Ich hatte keine Ahnung, dass es ein solches Spiel gibt.«
    »Doch. Vor allem gegen Abend. Wenn die Mädchen zu fünft in den Schlafsälen liegen und vor dem Einschlafen noch etwas schwatzen. Oder wenn alle ein wenig getrunken haben.«
    Der Inquisitor legte den Kopf schräg. Er saß ihr halb zugewandt da, und im Licht der Wandlampe sah Ywha nur seine eine Gesichtshälfte. Mit dem herabgezogenen Mundwinkel.
    Warum erzählte sie ihm das eigentlich alles? Und warum interessierte es ihn?
    Aus professioneller Neugier? Wie viele solcher Beichten er sich wohl an jedem Arbeitstag anhörte?
    Plötzlich fiel ihr das große Bett in der anderen Wohnung wieder ein, ein Schlachtfeld, überzogen mit dem Schnee der weißen Bettwäsche.
    »Und wie sieht Ihr Leben aus?«
    Die Frage war ihr ganz von selbst entschlüpft. Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, wurde Ywha voller Entsetzen klar, dass sie die Worte nicht mehr zurücknehmen konnte. Worte sind keine Spaghetti, die man sich in den Mund stopfen kann.
    Die Pause dehnte sich. Ywha schluckte ihre Spucke hinunter.
    »Was meinst du? Wie wird mein Leben schon aussehen?«
    »Wollen Sie denn immer so weitermachen?« Ywha seufzte verzweifelt. »Ich habe gehört, ein Inquisitor darf nicht heiraten.«
    Sie stellte sich auf jede Reaktion ein. Gelächter, Desinteresse, eine bissige Bemerkung, arrogante Abkehr. Der Inquisitor drehte langsam den Kopf.
    »Das geht mich ja nichts an«, murmelte Ywha. »Entschuldigen Sie bitte.«
    Er lächelte. Ihre Angst schien ihn zu amüsieren. »Schon gut, deine Frage ist ganz normal.«
     
    (Djunka. Mai.)
    Die Luke, die zum Dachboden führte, war nie abgeschlossen.
    In tiefem Schweigen liefen sie an dem Betonkasten vorbei, in dem sich etwas drehte und die Motoren der beiden schwachen Fahrstühle brummten. Sie liefen an der niedrigen Tür vorbei, deren Klinke ein großes Vorhängeschloss sicherte. Sie kletterten die akkurat gestrichene Eisenleiter hoch und kamen hinaus in den feuchten Frühlingsabend. Vierundzwanzig Stockwerke brachten sie den Sternen nicht näher, von denen es ohnehin nur zwei oder drei gab. Über den dunklen Himmel zogen, ständig die Form wechselnd, graue Wolken dahin.
    Früher hatte es hier einmal ein Café gegeben. Jetzt war von ihm nur noch das Eisenskelett eines Sonnenschirms übrig, den man hier seinem Schicksal überlassen hatte und der langsam vor sich hin rostete. Das alte Geländer rostete ebenfalls, weshalb sich Klaw auch nicht dagegenlehnte.
    Hier brauchte man kein Licht. Die Fassade des Hauses gegenüber war vollständig in bunte, flackernde Reklamelichter getaucht. Djunkas Gesicht, in dem jede Wimper klar erkennbar war, leuchtete mal apfelsinengelb, mal fliederfarben oder grasgrün. Klaw wusste, dass er selbst nicht

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