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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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besser aussah.
    »Wie im Zirkus.« Djunkas Mundwinkel umspielte ein Lächeln.
    Klaw fröstelte. Er hatte keine Höhenangst, aber der Wind stellte sich als überraschend kalt heraus.
    »Klaw … ich … liebe … dich.«
    Aus unerfindlichen Gründen fuhr er zusammen. Er legte ihr die kalten Hände auf die Schultern. »Djunotschka …«
    »Klaw …«
    »Djun.« Er befeuchtete sich die Lippen. »Und was wäre … wenn ich sterben würde? Was würdest du dann tun? Wenn ich plötzlich …«
    Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich. Er glaubte, Angst darin zu erkennen.
    »Tut mir leid«, sagte er hastig. »Ich …«
    »Du brauchst keine Angst zu haben, Klaw«, flüsterte sie, während eine neue Explosion der Reklamelichter ihr Gesicht kupferrot schimmern ließ. Verbrannt sah das aus, wie bei einem Indianer. »Du … wirst … nicht sterben. Hab keine Angst …«
    Die Neonlichter flackerten. Dunkelblaues Licht überflutete jetzt das Dach. Djunkas Gesicht mit den bittenden, halb geschlossenen Lippen wurde matt wie …
    … wie das Flachrelief auf dem dunklen Grabstein. Klaw wich zurück, aber ihre Hände legten sich um seinen Hals, wollten ihn halten. »Klaw … verlass … mich … nicht!«
    Die Hände lösten sich. Djunka trat zurück, und in einem weiteren lautlosen Ausbruch der bunten Lichter sah Klaw, wie feucht ihre Wimpern waren.
    Mitleid schnitt ihm ins Herz.
    »Ich verlasse dich doch nicht … niemals … wie kommst du denn darauf.«
    Djunka wich weiter zurück. Fast gleichzeitig sickerten zwei große Tränen aus ihren Augen. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie sagen: Nein.
    »Glaubst du mir nicht?!«
    Immer noch wich Djunka zurück.
    Was bin ich nur für ein Schwein, dachte Klaw wütend. All die Ängste und das Zögern! Das entgeht ihr doch nicht. Wie sie sich da vorkommen muss?! Immer wartet sie auf mich, ständig hat sie Angst, dass ich nie wieder komme, Schluss mache, weil ich mich vor ihr fürchte.
    »Djunotschka, ich schwöre dir, bei allem, was ich habe, ich schwöre es dir bei meinem Leben …«
    Er glaubte, sie würde ihm entwischen – wie ein Traum. Dass seine ausgestreckten Hände sie nie berühren und ins Leere greifen mochten.
    Erleichtert seufzte er, als er endlich die zitternden, hängenden Schultern umfasste. Er zog sie an sich, kam ihr entgegen, konnte es nicht abwarten, sie in die Arme zu schließen. »Niemals …«, versicherte er.
    Sie lehnte sich leicht zurück. Rutschte ein wenig zur Seite. Kaum merklich.
    Unmittelbar unter den Sohlen seiner Schuhe erstreckte sich die nächtliche Straße, da funkelten die Bürgersteige, blinkten Lichter und hupte es. Ein Heer von Autos kroch über sie, vor Schaufenstern standen menschliche Figuren, winzig wie Ameisen im Sand.
    Die Luft verdichtete sich und weigerte sich, in seinen krampfhaft aufgesperrten Mund zu strömen.
    Zwischen ihm und der Leere gab es nichts. Keinen Vermittler. Auge in Auge stand er ihr gegenüber.
    Die Straße verschwamm vor seinen Augen zu einem einzigen, bunten Band. Das Dach neigte sich zögernd, als beuge es sich gegen seinen Willen. Als wollte es diesen Menschen viel lieber wegschleudern, so wie man eine Brezel, die am Backblech klebt, durch einen kurzen Schlag von diesem löst – damit sie gegessen werden kann.
    Er bemerkte ein Netz von Leitungen, das ihm zuvor nicht aufgefallen war, samt einer akkuraten Reihe von Nichtleitern aus Porzellan, gespannte schwarze Linien, die sich zu einem Notenheft fügten.
    Bonbonpapier sah er, das direkt neben dem Mülleimer in den Asphalt getreten war. Aus dieser Höhe konnte man kein Papier erkennen, selbst die Gesichter der Menschen und die bunten Karossen sah man von hier oben nicht scharf und deutlich. Doch Klaw erspähte es.
    Das Dach neigte sich weiter. In der Luft konnte er sich nirgendwo abstützen. Die Leere saugte ihn an, bildete einen glitschigen Trichter. Der Fall war unvermeidlich.
    Er stolperte vor. Tat noch einen halben Schritt. Unter seinen Füßen gab es nichts mehr. Jeder Halt fehlte – und in der Luft konnte er sich nirgendwo abstützen. Die Erde zog ihn an.
    Hypnotisiert, gehorsam, unfähig, sich der Leere zu widersetzen, balancierte Klaw am Rand des Dachs entlang. Die Fassaden schlossen sich zu einem Brunnen zusammen, an dessen Boden die Straße lag. Ein Lichtermeer …
    In diesem Augenblick schrie der Wächter in seinem Innern lautlos auf, er, der so unfassbar war, der unauslöschlich in seinem Gedächtnis hauste und ihm in der letzten Woche bereits zweimal das

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