Das Jesus Video
zwölf, mit grauen, karierten Hemden, kurzen Hosen und Käppchen und seltsam langen Haaren. Nur eines der Kinder las mit dem Gesicht zur Wand aus einem Buch, die anderen sahen hierhin und dorthin, rutschten unlustig umher oder kletterten auf die Sitzflächen ihrer Stühle. Doch niemand nahm Notiz von ihnen.
Je länger Stephen die Szenerie auf sich wirken ließ, desto weniger bizarr kam sie ihm vor. Die Beschreibungen, die er gehört oder gelesen hatte, stimmten alle — und verfehlten die Wahrheit doch. Ja, er sah Menschen, die an die Mauer herantraten und kleine, zusammengefaltete Papierstückchen in die Ritzen stopften, die Wünsche oder Gebete enthielten. Als er von diesem Brauch erfahren hatte, war er ihm absurd vorgekommen. Aber wenn man dabeistand, war es alles andere als absurd. Es war beinahe anrührend. Ja, es stimmte, daß beim jüdischen Gebet alle laut durcheinander redeten — was um so kakophonischer klang, wenn man kein Wort Hebräisch verstand -, aber es so zu schildern, erkannte er, entsprang einer distanzierten, herablassenden Haltung, die das Andersartige nicht verstehen, sondern verächtlich machen wollte. Jetzt und hier, mit seinen eigenen Augen, sah er in der Lautstärke die Inbrunst des Gebetes, und was wie Durcheinander wirkte, hieß nur, daß jeder alleine mit seinem Gott sprach.
Wie mochte es sein, sich in eine Tradition eingebettet zu fühlen, die mühelos fünftausend Jahre und mehr zurückverfolgt werden konnte? Ob einem das Ruhe gab? Wenn man sich als Teil eines großen, ewigen Lebensstroms verstand, dann konnte man nicht gleichzeitig unter dem Druck stehen, aus diesem einen Leben etwas Bedeutsames, Großartiges machen zu müssen.
Bin ich neidisch? fragte sich Stephen.
Ausgelassenes Gelächter lenkte ihn ab. Er drehte sich herum und beobachtete eine große Familie, die einen dreizehnjährigen, übers ganze vollmondartige Gesicht strahlenden Jungen eskortierte, die Frauen farbenprächtig gekleidet und ausgelassen, die Männer betont gelassen, aber doch sichtlich von Stolz erfüllt.
»Eine Bar-Mizwa-Feier«, erklärte Yehoshuah ihm ungefragt.»Das heißt, der Junge durfte heute in der Synagoge zum ersten Mal aus der Thora vorlesen.«
Stephen sah der Familie nach. War das der Preis für die Geborgenheit in der Tradition? Daß man sich so früh wie möglich von ihr vereinnahmen lassen mußte?
Ihm fiel wieder ein, weswegen sie hierher gekommen waren. Und als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Judith in genau diesem Moment:»Ich sehe keinen annähernd roten Stein.«
Das stimmte. Die Felsquader, aus denen man die Westmauer des Tempels einst aufgetürmt hatte, bestanden aus dem hellgrauen, von fern gelb wirkenden Sandstein, aus dem mehr oder weniger ganz Jerusalem gebaut war. Die einzelnen Blöcke zeichneten sich deutlich ab, zwischen einigen von ihnen wucherte Unkraut hervor, und etliche, vor allem in den oberen Reihen, schimmerten grünlich bis dunkelgrau.
Aber keiner der Blöcke schimmerte rot. Nicht einmal rötlich. Nicht einmal mit viel Phantasie.
»Hat er uns angelogen?«fragte Stephen halblaut.»Oder haben wir etwas Falsches gelesen?«
Yehoshuah schüttelte den Kopf.»Nein. Ich glaube nicht. Ich hab’ mir das fast gedacht.«
»Was gedacht?«
»Daß der Stein nicht zu sehen sein wird.«
»Wieso?«Stephen taxierte die Entfernung von der Südwestecke des Tempelbergs. Das Versteck der Kamera mußte ziemlich in der Mitte der Klagemauer liegen.
»Er hat geschrieben, die Kamera sei in einem Stein der zweiten Lage verborgen«, sagte Yehoshuah.»Nicht wahr, das hat er geschrieben?«
»Ja.«Stephen deutete auf die Menschen vor der Mauer. Die erste Lage reichte den meisten bis zur Brust.»Irgend jemand küßt ihn gerade.«
»Nein. Das ist nicht die zweite Lage.«Der Tonfall, in dem er das sagte, ließ nichts Gutes erwarten.»Die ursprüngliche Tempelmauer war viel höher. Was wir hier sehen, ist nur der obere Teil. Elf Quaderlagen sind sichtbar, die übrigen neunzehn Lagen befinden sich unter dem Boden.«
Daniel Perlmann betrachtete den Mann, der auf einem seiner ledernen Besucherstühle saß, betrachtete dann durch die großen Fenster seines Büros die eindrucksvolle schwarze Limousine, in der dieser Mann gekommen war und neben der ein nicht minder eindrucksvoller Leibwächter auf dessen Rückkehr wartete, und sah dann wieder seinen eindrucksvoll gekleideten Besucher an.»Sie wissen sicher, daß ich derartige Informationen nicht weitergeben darf«, sagte er dann, so fest er
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