Das Jesus Video
verriet.
»Seit Jahrhunderten ist der Spiegel in unserem Besitz«, brabbelte Bruder Gregor.»Der Spiegel, der einst einem Mann aus Besara gehörte, wie es heißt. Und er hat das Antlitz von Jesus, unserem Herrn, bewahrt — aber das Bild hat schon vor langer Zeit begonnen zu verblassen. Das ist das Tragische, das ist der große Schmerz, der unsere Bruderschaft erfüllt.«
»Es verblaßt?«fragte Stephen alarmiert.»Das Bild verblaßt?«
Der Mann schien ihn nicht wirklich zu hören.»So steht es geschrieben, und so ist es Brauch, seit wir uns von Rom losgesagt haben: Nur alle hundert Jahre einmal wird der Spiegel aus dem Tabernakel genommen, und nur einer aus der Bruderschaft der Bewahrer wird ausgewählt, einen Blick hineinzuwerfen, und dieser Blick währt nur einen Lidschlag lang. Für diesen Moment ist es ihm vergönnt, unseren Herrn zu sehen, und den Rest seines Lebens verbringt er damit, Zeugnis zu geben von dem, was er geschaut hat.«
Stephen betrachtete den goldenen Kasten und verfluchte im stillen die Männer, die sie verfolgt hatten. Das wäre jetzt der Moment gewesen, das Heiligtum der Mönche mit einem raschen Griff an sich zu bringen und kurzerhand zu entführen: Was hätten die ganzen alten Männer gegen sie drei ausrichten wollen?
»Alle hundert Jahre?«Das klang ja wie ein Märchen.»Und wann ist es wieder soweit?«
»Oh, erst in etwa fünfundsechzig Jahren«, lächelte Bruder Gregor nachsichtig. Er schien sich ihrer Gegenwart allmählich bewußt zu werden, und wie zufällig schob er sich immer mehr zwischen sie und den Altar, wie ein Verteidiger.»Keiner von uns wird das mehr erleben, und keiner von uns wird jemals hineinsehen.«
»Wie wird bestimmt, wer hineinsehen darf?«
»Die Brüder wählen einen aus ihrer Mitte. Meistens bestimmt man den Jüngsten — den, der noch ein langes Leben vor sich hat und den anderen lange Zeit ein Licht sein kann. Ihr habt Bruder Felix kennengelernt. Er war der letzte, der den Herrn geschaut hat.«
Stephen fühlte sich mehr und mehr benommen. Er glotzte das Heiligtum an, dann den Mönch, der mit gefalteten Händen auf seinem Teppich stand und auch wie nicht von dieser Welt wirkte.»Bruder Felix?«wiederholte er.»Der ist aber ein bißchen merkwürdig, oder?«
»Der Spiegel hat ihn verwandelt.«
»Verwandelt? Der Spiegel?«
Der Mönch faltete die Hände und sah sie an mit Blicken, in denen etwas Dunkles, Schwarzes zu wogen schien, etwas wie geronnenes Blut.»Es heißt«, erklärte er,»wer hineinsieht, ist nicht mehr derselbe danach. Was immer darin zu sehen ist, es verändert einen Menschen für immer.«
Stephen mußte an den offenen, warmen Blick des alten Mönchs denken. Es waren freundliche Augen gewesen, die das uralte Geheimnis kennengelernt hatten.
Der Rauch, der fadendünn von den drei Öllichtern aufstieg, schien sich zu kräuseln von diesen Worten. Stephen spürte einen schier übermächtigen Impuls, wegzurennen, sich in irgendeinem Eck zu verkriechen und nichts mehr sehen und hören zu müssen, bis alles vorbei war.
Aber es gab hier nur eine Richtung, in die man rennen konnte, nämlich die Treppe hinauf… Ihm fiel wieder ein, wer da oben zugange war, und irgendwie brachte ihn diese Erinnerung wieder in Kontakt mit der wirklichen Welt, der Realität, in der Sagen und Mythen nur Geschichten waren und in der man sich auf naturwissenschaftliche Fakten verlassen konnte. Der Brief des Zeitreisenden fiel ihm wieder ein, ein Detail daraus, dessen Bedeutung ihm blitzartig klar wurde.
»Der Erholungseffekt!«Er wandte sich zu Yehoshuah und Judith um.»In dem Brief war die Rede davon, daß sich die Batterien nach einer Weile immer wieder erholten und wieder für eine gewisse Zeit Strom gaben. Genau das haben wir hier. Inzwischen sind sie uralt, aber in hundert Jahren Ruhe sammelt sich noch gerade genug Energie an, um den Wiedergabemechanismus für ein paar Sekunden zu betreiben. Das ist der Blick in den Spiegel.«
Yehoshuah nickte verblüfft. Judith runzelte die Stirn.»Aber man müßte die Aufnahmen doch irgendwann zurückgespult haben — mit welcher Energie?«
»Die MR ist ein volldigitales System mit wahlfreiem Zugriff«, berichtigte sie Stephen.»Da wird nichts gespult, sondern die Daten werden aus einem Speicher gelesen. Wie bei einem Computer.«Er drehte sich zu dem Mönch um.»Pater, ich habe euren Spiegel noch nie gesehen, aber ich weiß, wie er aussieht. Es ist ein kastenförmiges Ding, etwa so groß«- er deutete die ungefähren Maße mit
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