Das Jesus Video
sich nun, ihre Schritte so unhörbar wie möglich zu setzen. Weiter, einen Fuß vor den anderen, immer weiter hinein in das Land der Furcht, immer weiter der Angst entgegen. In den fauligen Gestank des Brunnens mischte sich nach und nach ein schwerer, fremdartiger Geruch, etwas wie Weihrauch oder Myrrhe, etwas, das einen an Kathedralen denken ließ und an vieltausendstimmige Choräle in himmelhoch strebenden Kirchenschiffen.
Jemand summte.
Das Geräusch lief Stephen wie ein elektrischer Strom durch den ganzen Körper. Jemand summte etwas, das wie ein seltsam unmelodisches Lied klang, ein tiefer, brummelnder Männerbaß, in innigliche Konzentration versunken. Das Summen erfüllte die Luft mit leiser, aber so unerhört intensiver Präsenz, daß man Angst bekam, derjenige, der es erzeugte, könnte vor Schreck sterben, wenn man ihn in diesem Augenblick überraschte.
Das Summen verstummte in dem Moment, als sie die Grotte erreichten.
Der Raum war nicht groß, kaum größer als der Raum urn den Ziehbrunnen, roh in den Fels geschlagen. Und im ersten Moment fühlte sich Stephen an die unzähligen Erzählungen arabischer Märchen erinnert, in denen es von geheimen, von Reichtümern überquellenden Schatzkammern nur so wimmelt. Drei kleine Öllichter brannten auf einem riesigen Altar, der vollgestellt war mit goldenen Kelchen, goldschimmernden Kerzenhaltern, ausladenden Kreuzen, großen, farbenprächtigen Ikonen mit goldener Auflage und mächtigen, handgeschriebenen Bibeln, all das aufgetürmt auf zahllosen kleinen und großen, kunstvoll geknüpften und gewebten Teppichen, wie sie auch den Boden bedeckten. Weitere Ikonen mit Szenen aus dem Leben Jesu hingen an den Wänden oder standen dagegengelehnt, eine prachtvolle Ansammlung unermeßlicher Kunstschätze.
Davor, auf einem der Teppiche, kniete betend ein einzelner Mann: Bruder Gregor.
Sie standen schweigend, erschlagen vom unvermuteten Anblick der überwältigenden Pracht, und wußten nicht, was sie tun oder sagen sollten.
Bruder Gregor senkte noch einmal den Kopf, bekreuzigte sich dreimal, erhob sich mit ungelenken, schwerfälligen Bewegungen und wandte sich ihnen zu, als habe er sie erwartet.
Vielleicht lag es an der Beleuchtung, oder vielleicht ließ das dämmrige Licht eine Wahrheit zutage treten, die im Tageslicht verborgen geblieben war, aber in sein Gesicht eingegraben waren tiefe Falten der Besorgnis, die es unendlich alt erscheinen ließen.
»Ihr habt es gefunden«, sagte er mit müder Stimme.
Stephen mußte sich räuspern, ehe er etwas erwidern konnte.
Seine Zunge fühlte sich dick und kloßig an.»Es gefunden? Was gefunden?«
»Den Spiegel, der das Antlitz unseres Herrn bewahrt«, erklärte der alte Mönch und deutete mit einer Hand auf einen kleinen, über und über mit Gold und Zierat geschmückten Kasten in der Mitte des Altars.»Das ist er.«
Uri Liebermann hatte den Hörer seines Telefons nach dem Ende des Gesprächs noch mindestens fünf Minuten in der Hand gehalten, die blaue Tapete vor seinen Augen angestarrt und überlegt, was er nun tun sollte. Oh er überhaupt etwas tun sollte. Denn die Geschichte, die ihm Peter Eisenhardt in hektischen, gegen eine laufende Uhr hervorgesprudelten Sätzen berichtet hatte, war einfach zu phantastisch.
Er erinnerte sich, wie er den deutschen Schriftsteller zufällig auf dem Flug von Frankfurt nach Tel Aviv kennengelernt hatte. Von unauffälliger Erscheinung, ungesund blaß und zur Korpulenz neigend, war Eisenhardt nicht halb so beeindrukkend gewesen wie das schmeichelhafte Autorenfoto, das sein Verlag bei der Gestaltung der Schutzumschläge und der Inserate verwendete. Sie hatten sich eine Weile nett unterhalten, und dann hatte er sein Kunststückchen mit der Digitalkamera und dem Minicomputer abgezogen, mit dem er öfters Leute beeindruckte — bis jetzt hatte sich noch jeder Prominente, den er auf Flügen kennengelernt hatte, deswegen an ihn erinnert, wenn sich die Notwendigkeit ergeben hatte, den Kontakt wieder aufzunehmen -, und damit war die Sache für ihn zunächst abgeschlossen gewesen.
Doch der Schriftsteller hatte sich schon am nächsten Tag wieder gemeldet und ihn um einen Gefallen gebeten, eine Recherche, einen britischen Altertumsforscher betreffend, der seit Jahrzehnten in Israel sein Unwesen trieb. Nun gut, das war eine Fingerübung gewesen. Die eigentliche Arbeit hatte natürlich der Computer erledigt. Und warum nicht, schließlich hatte die kleine Meldung mit Foto mehr als nur ein paar Schekel
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