Das Jesus Video
steinernem Gesicht. Er hatte seine Wahrheit. Der Professor stand ruhig zwischen umgestürzten Bücherstapeln und den Trümmern seiner Fenster, als hätte er überhaupt nicht verstanden, was der Schriftsteller ihm unterstellte. Was wie der Anfang eines erbitterten Streits ausgesehen hatte, verpuffte wirkungslos. Jeder hatte seine Wahrheit. Auf dieser Grundlage war kein Streit möglich.
»Gut«, meinte Eisenhardt schließlich und stand auf.»Wie auch immer, es interessiert mich nicht mehr. Stephen, ich würde gern so rasch wie möglich wieder nach Hause fliegen. Es wartet Arbeit auf mich.«
Stephen stand ebenfalls auf.»Ja, sicher.«
»Ich warte im Wagen. Professor? Leben Sie wohl.«Er nickte dem alten Mann kurz zu und ging. Man hörte ihn draußen seinen Parka von der Garderobe nehmen, dann ging die Haustür. Es klang zornig, enttäuscht. Selbst in seinen Schritten hörte man es.
Stephen und WilfordSmith sahen einander an. Plötzlich war eine unerwartete, ungewohnte Vertrautheit zwischen ihnen.
»Tja«, meinte Stephen und reichte dem weißhaarigen alten Mann die Hand.»Dann will ich ihn mal nicht warten lassen.«
»Ja. Sicher hat er sich etwas anderes versprochen von die ser Reise.«
»Es tut mir leid, was geschehen ist. Wenn ich nicht gekommen wäre, würde das Video wahrscheinlich noch existieren.«
»Es existiert ja noch.«
»Ja sicher, nur hat es jetzt der Vatikan«, meinte Stephen.»Wenn sie es nicht vernichten, werden sie es zumindest für immer wegschließen.«
Der Professor ging hinter seinen Schreibtisch, behutsam, denn hier und da knirschte noch Glas unter seinen Schuhen.»Die Cassette ist verloren, ja«, sagte er.»Das ist schade. Aber das Video ist nicht verloren.«Er öffnete eine Schublade und nahm zwei gewöhnliche VHS-Videocassetten heraus.»Wir haben natürlich Kopien gemacht. Kopien in allen gängigen Videoformaten — VHS, Super-VHS, BetaCam, Hi-8 Digital, MR, und so weiter. Vergessen Sie nicht, das JesusVideo war eine digitale Aufzeichnung. Das heißt, die Kopie ist genausogut wie das Original, und Sie können es beliebig oft kopieren, ohne daß die Qualität darunter leidet.«
Er reichte Stephen eine der Cassetten.
»Wir?«fragte der verblüfft.»Wer ist wir?«
»Freunde«, sagte der Professor nur.»Nur für den Fall, daß auch in diesem Raum Abhörmikrophone versteckt sind und jemand mithört, sage ich Ihnen, was Sie sich auch denken können: Die Kopien sind über die ganze Welt verstreut, und es gibt Tausende davon. Es ist ein Schneeballeffekt — einer gibt eine Handvoll Kopien weiter an Freunde, die wiederum Kopien ziehen und verschenken, und immer so weiter. Eine Lawine. Scarfaro kann es nicht mehr aus der Welt schaffen.
Es ist unmöglich. Egal, wie viele Kopien er findet und zerstört, er wird sich niemals sicher sein können, daß er alle gefunden hat.«
Stephen starrte die Cassette in seiner Hand an. Es war eine ganz normale Videocassette, wie er sie für ein paar Dollar im Laden kaufte, um einen Spielfilm aufzunehmen. Sie trug einen kleinen Aufkleber, auf dem einfach Jesus Video stand.
Er glaubte zu träumen. Er würde nach Hause gehen, diese Cassette in seinen Videorecorder einlegen, in dasselbe Gerät, das er benutzte, um die Star Trek-Filme oder Bugs Bunny anzuschauen, und würde Jesus auf seinem Fernsehschirm sehen.
»Nehmen Sie auch eine für Eisenhardt mit«, meinte WilfordSmith und gab ihm die zweite Cassette.»Als Andenken.«
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WEITERE ZWEIEINHALB JAHRE SPÄTER
AM ANFANG HATTE ihn die Weite und die Einsamkeit der Landschaft erschauern lassen. Dann, ganz allmählich, hatte sich die erste Panik in etwas verwandelt, das nur Ekstase sein konnte: mit einem Auto durch ungezähmte, wüstenartige Ebenen zu fahren, die nie etwas von der Zivilisation der Städte und Fabriken gehört zu haben schienen, ganz allein mit sich und dem Himmel, dem Lauf der Sonne und der Erde.
Aber das schien natürlich nur so. In beruhigend regelmäßigen Abständen tauchte, angekündigt durch ein Stakkato großer, scheußlich bunter Werbetafeln am Straßenrand, ein staubiger Ort auf oder eine Tankstelle oder ein Motel, und Peter Eisenhardt war, wie er sich eingestehen mußte, im Grunde froh darum, nicht auf die Jagd gehen oder abends ein Zelt aufschlagen zu müssen. Dann genoß er es, nur die Kreditkarte zücken zu müssen, um eine warme Mahlzeit oder ein sauberes Bett zu bekommen, und kam sich dabei vor wie ein Globetrotter, frei und ungebunden. Träumereien, alles miteinander.
Den Zettel
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