Das Jesus Video
aussehenden Leinenbeutels eine ebenfalls uralt aussehende Plastikhülle gefunden hatte. Die Wirklichkeit war verschwunden, vollkommen unwesentlich geworden, hatte die Bühne geräumt für abstrakte Konstellationen, für dramatische Elemente, für Bausteine von Geschichten, die sich in einem wilden Tanz zu immer neuen Mustern und Abläufen anordneten.
Es gibt eine ganz eigene Kategorie von Kriminalgeschichten, die alle dasselbe Thema haben: Jemand ist ermordet worden, in einem von innen verschlossenen Raum, aus dem es keine Fluchtmöglichkeit gibt. Und jede dieser Kriminalgeschichten liefert eine ganz eigene, raffinierte Erklärung dafür, wie der Mord hatte passieren und der Mörder aus dem Raum hatte entkommen können, wobei die Raffinesse dieser Erklärung den Reiz der Erzählung ausmacht. In ungefähr diesen Kategorien dachte Peter Eisenhardt jetzt.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, war die Geschichte von der zweitausend Jahre alten Videokamera und der Zeitreise löchriger als ein Nudelsieb. Der einzige, der die angeblich eindeutig auf die Zeitenwende datierbare Fundstätte unversehrt gesehen hatte, war dieser junge Mann, den er noch nicht kennengelernt hatte. Allenfalls der Professor. Nicht einmal Kaun hatte einen Beweis dafür, daß die Datierung richtig war. Deswegen hatte er Proben in ein amerikanisches Labor geschickt, um ihr Alter nach der Radiokarbonmethode feststellen zu lassen, die als absolut unbestechlich galt.
Aber angenommen, jemand hatte einen Weg gefunden, die Radiokarbonmethode zu überlisten? Eisenhardt kritzelte Pfeile, Kringel und Fragezeichen und schrieb: Fälschung? C-14?
Wie mochte eine solche Fälschung zu bewerkstelligen sein? Eisenhardt versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was er über die Radiokarbonmethode wußte. Er hatte sich für einen Roman einmal darüber informiert, aber das war lange her. Also, wie war das? Ein lebender Organismus — zum Beispiel die Pflanze, aus deren Zellstoff das Papier für die Bedienungsanleitung hergestellt worden war — stand in permanentem Austausch mit der Umgebung. Unter anderem nahm er ständig Kohlenstoff auf und gab ihn in anderer Form wieder ab. Der springende Punkt war, daß ein bestimmter Teil des Kohlenstoffs nicht aus den normalen Kohlenstoff-12Atomen, sondern aus Kohlenstoff-14-Atomen besteht, die leicht radioaktiv sind. Deshalb nannte man die Radiokarbonmethode manchmal auch C-14-Analyse.
Und wie weiter? Zu Hause hätte er jetzt seine alten Aufzeichnungen hervorziehen können. Aber er glaubte sich zu erinnern, wie es weiterging: Der Organismus stirbt. Von dem Moment an lagert er keinen weiteren Kohlenstoff mehr ein. Die Kohlenstoff-14-Atome, die in dem toten Gewebe enthalten sind, zerfallen langsam, aber gleichmäßig. Ihr Anteil am gesamten Kohlenstoff nimmt im Lauf der Zeit also ab — und zwar unabhängig davon, ob der tote Organismus versteinert, vergraben, mumifiziert oder sonstwie zugerichtet wird. Radioaktiver Zerfall bleibt von all dem unbeeinflußt — deshalb kann aus dem Verhältnis der beiden Arten von Kohlenstoff zuverlässig das Alter des betreffenden toten Organismus bestimmt werden.
Eisenhardt rieb sich die Schläfen. Das mußte er noch einmal nachprüfen, aber wenn es so war, daß der Anteil an Kohlenstoff-14 im Lauf der Zeit abnahm, hatte es jedenfalls keinen Sinn, einen Fund etwa mit radioaktiven Strahlen zu bombardieren. Im äußersten Fall würde es gelingen, ihn jünger datieren zu lassen als er tatsächlich war. Das machte hier keinen Sinn. Umgekehrt — man hätte eine Methode gebraucht, den radioaktiven Zerfall zu beschleunigen. Doch so etwas gab es nicht. Und wenn jemand eine solche Methode erfunden hatte, würde er sie auf radioaktiven Müll anwenden und sich einen goldenen Hintern damit verdienen, anstatt dubiose Beweisstücke zu fälschen.
Trotzdem. Eisenhardt stand weiter da, kaute weiter am hinteren Ende des schwarzen Filzstiftes, als habe er die Hoffnung auf ein ordentliches Frühstück schon aufgegeben, und starrte weiter auf das große Blatt Papier mit den Fragezeichen darauf. Trotzdem. Konnte das die Antwort sein? Die Wahrheit hinter allem? Führte hier jemand ein großangelegtes Betrugsmanöver durch, und war er, Peter Eisenhardt, aus irgendwelchen unvorstellbaren Gründen ein Teil davon?
Diese Idee ließ sein Herz schneller schlagen. Normalerweise war das ein angenehmes Gefühl, hieß es doch, daß er ein atemberaubendes Thema aufgespürt hatte, eines, das sein Blut in Wallung zu bringen
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