Das Jesusfragment
an. »Entspannen Sie sich, verdammt noch mal! Sie dürfen doch etwas trinken, oder? Sie müssen doch nicht jedes Mal so ein Theater machen, wenn Sie Lust auf einen Drink haben!«
Ich war dermaßen überrascht, dass mir keine Erwiderung einfiel.
»Damien«, fuhr sie in feierlichem Ton fort, »es wird Zeit, dass Sie sich wieder ein bisschen mehr zutrauen. Ich werde hier keine Tresenpsychologie mit Ihnen betreiben, aber ehrlich gesagt, machen Sie sich zu viele Sorgen!«
Ich erstarrte, wütend und fassungslos zugleich.
»Ich weiß nicht, was Sie alles Schreckliches erlebt haben, aber heute ist das Leben schön. Sie haben das Recht, sich zu entspannen.«
Ich starrte sie vollkommen verblüfft an. Noch nie hatte sie in diesem Ton mit mir gesprochen. Noch nie hatte sie mich so angesehen. Ich hatte das Gefühl, Chevalier zu hören, der wie ein großer Bruder zu mir sprach. Oder Sophie, wie eine große Schwester. Rührend und enervierend zugleich. Und dazu war sie noch so selbstsicher!
»Das Leben ist schön? Mich entspannen?«, konnte ich schließlich stotternd hervorbringen.
»Ja, leben Sie, Sie sind doch ein netter Typ. Sie machen sich nur das Leben viel zu schwer.«
Ich verspürte große Lust, ihr zu sagen, dass sie zu den Wesen gehörte, die mir im Augenblick das Leben schwer machten, aber ich hatte nicht den Mut dazu.
»Nicht jeder kann so lässig sein wie Sie«, konterte ich endlich. »Na schön, Sie haben keine Komplexe, bravo! Aber nicht jeder kann so entspannt sein.«
»Ich bin gar nicht entspannt! Aber ich bin frei und ich frage mich nicht, was die Leute über mich denken. Ein Beispiel: Es stört Sie, dass ich Frauen genauso mag wie Männer. Aber sehen Sie, ich frag mich das nicht, wirklich nicht. Ich lasse mich treiben. Wenn ich mich verliebe, verliebe ich mich einfach.«
»Das ist ein bisschen zu einfach.«
»Eben nicht, aber darum geht es im Grunde gar nicht«, verteidigte sie sich.
»Aber worum dann? Ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie mir zu sagen versuchen. Ich weiß nicht einmal, weshalb Sie mich derart provozieren!«
»Ich versuche Ihnen zu sagen, dass Sie zu viele Schuldgefühle hegen. Gegenüber Ihrer Ex, gegenüber Ihrem Vater, gegenüber Ihrer Vergangenheit im Allgemeinen, dem Alkohol, den Drogen, New York und was weiß ich. Sie sollten mal ein bisschen durchatmen.«
»Wir sind nicht gerade in der idealen Lage, uns zu entspannen«, erwiderte ich mit ironischer Stimme.
»Das stimmt«, räumte Sophie ein, »aber wenn es Ihnen jetzt gelingt, in dem Augenblick, in dem es am schwersten ist, dann haben Sie es geschafft. Und es würde mir gefallen.«
Ich schwieg einen Moment. Im Grunde wusste ich genau, was sie sagen wollte. Sie hatte vielleicht nicht die richtigen Worte gefunden, aber sie hatte Recht. Mein Problem war einfach: Ich mochte nicht, was in New York aus mir geworden war, und ich hatte das Bedürfnis, mich reinzuwaschen. Mich zu läutern. Mich freizusprechen. Und bis zu unserer Begegnung hätte ich nie geglaubt, dass ich es schaffen würde. Sophie war es, die mir zur Wiedergeburt verhelfen würde, mir zurückgeben konnte, was mir meine Vergangenheit geraubt hatte. Aber es gab ein Problem: Ich liebte sie, und sie liebte Frauen.
»Warum sagen Sie mir das jetzt, einfach so?«, fragte ich sie und senkte den Blick.
»Weil ich Sie gern habe. Wirklich.«
So einfach und beinahe ungeschickt es klang, es war das Liebenswürdigste, das man mir seit Jahren gesagt hatte. Und zugleich das Verwirrendste.
»Und außerdem«, gestand sie, »weil es mich aufregt, wie Sie jedes Mal in Panik geraten, wenn Sie etwas trinken oder mit mir flirten wollen.«
»Mit Ihnen flirten?«, empörte ich mich.
»Ja, mit mir flirten. Es ist doch in Ordnung, Damien, Sie haben das Recht, mich anzumachen! Sie haben das Recht, anzumachen, wen immer Sie wollen, und die Person, die Sie anmachen, hat das Recht, darauf einzugehen oder nicht! Sie machen sich einfach zu viele Gedanken darüber!«
Wie gelähmt saß ich in meinem Sessel und schaute sie entgeistert an.
»Nun«, beharrte sie gnadenlos, »was trinken Sie?«
Es hatte keinen Sinn, gegen sie zu kämpfen. Sophie war eine Gegnerin außer Konkurrenz.
»Einen Whisky.«
Sie lächelte.
»Einen doppelten«, fügte ich hinzu und versuchte zu grinsen. Sie applaudierte und winkte den Ober heran. Dann gab sie unsere Bestellung auf, und bis uns unsere Getränke gebracht wurden, schwiegen wir ein wenig verlegen.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie zu hart angefahren
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