Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
Exaptationen statt als Anpassungen betrachten. Oder, um einen weniger biologischen Begriff zu verwenden, als echte Neuerungen.
Unter denjenigen, die die Evolution als vernünftige Metapher für viele Beispiele für den technischen Fortschritt akzeptierten, war der Gedanke verbreitet, der Hauptunterschied zwischen technischer und organischer Evolution bestehe darin, dass die technische Evolution der Lehre Lamarcks folge, die organische aber der von Darwin. Bei der Evolution nach Lamarck können erworbene Eigenschaften vererbt werden – wenn ein Grobschmied durch seine Arbeit starke Arme erwirbt, sollten seine Söhne ebenfalls starke Arme haben. Bei der Evolution nach Darwin ist das nicht möglich. Der Neo-Darwinismus erklärt den Unterschied: Vererbbare Eigenschaften sind solche, die von den Genen festgelegt werden.
In letzter Zeit ist dieser Unterschied ein wenig verwischt worden, und jeder Mechanismus hat Züge angenommen, die man für Kennzeichen des anderen hielt. Die technische Entwicklung hat sich von der Evolution einen Trick abgeschaut, wie sie sogenannte genetische Algorithmen für die Entwicklung neuer Produkte aufstellt. Digitalisierte Entwürfe werden durch Rekombination durcheinandergemischt, wie die biologische Fortpflanzung die Genvarianten beider Eltern vermischt. Die nächste Technikgeneration, die diesen Prozess überstanden hat, vereinigt in sich die nützlichsten Züge der vorangegangenen Generationen. Manchmal hat sie neue emergente Eigenschaften, die – wenn sie nützlich sind – ausgewählt und bewahrt werden. Oft ist der endgültige Entwurf für einen menschlichen Designer unverständlich. Die Evolution braucht kein menschliches Narrativium zu beachten.
Das Phänomen der genetischen Assimilation, welches ganz und gar den Darwin’schen Regeln gehorcht, kann dem Anschein nach eher Lamarck folgen. Wenn die Population durch Auswahl funktionierender genetischer Kombinationen fortschreitend verändert wird, können sich die Schwellen verändern, bei denen bestimmte Fähigkeiten ins Spiel kommen. Im Ergebnis können Effekte, die ursprünglich einen bestimmten Stimulus aus der Umwelt erforderten, in späteren Generationen ohne diesen Stimulus auftreten. Zum Beispiel wird die Haut an unseren Fußsohlen dicker, wenn wir regelmäßig gehen, eine erworbene Eigenschaft. Genetische Rekombinationen, die Säuglinge von Anfang an mit dickerer Haut an den Fußsohlen ausstatten, machen diesen Prozess wirksamer und werden daher ausgewählt. Jede neue Eigenschaft, erworben oder nicht, die funktioniert – die die Überlebenschancen bis zur Fortpflanzung verbessert –, offenbart eine Eigenschaft, auf die die Darwin’sche Evolution stoßen und die sie ausnutzen kann. Genetische Assimilation ist vielleicht sogar der übliche Weg, auf dem Anpassungen, die ursprünglich eine individuelle Reaktion waren, in den Entwicklungsplan eingebaut werden.
Insbesondere hat die alte Unterscheidung zwischen Lamarck und Darwin die Kraft verloren, technische von organischer Evolution zu unterscheiden. Das heißt aber nicht, es gebe keine wesentlichen Unterschiede. Es ist ein verlockender Gedanke, ein offensichtlicher Aspekt technischer Evolution könne keinesfalls für die Darwin’sche Evolution gelten: sich eine Möglichkeit vorzustellen , ehe man eine Verfahrensweise oder ein Gerät entwirft, um sie zu verwirklichen. Menschliche Technik entsteht in der Vorstellung einer Reihe von Erfindern oder Entdeckern. »Was würde passieren, wenn …?« ist eine theoretische Erkundung von Kauffmans angrenzendem Möglichen. Sich Möglichkeiten vorzustellen, führt meistens dazu, dass hypothetische neue Erfindungen verworfen werden, ohne dass man sich die Mühe macht, sie herzustellen oder zu erproben: Sie würden nicht funktionieren, weil … oder sie wären zu teuer. Oder sie würden nicht genug leisten, um das Gerät zu ersetzen, das die Aufgabe schon sehr gut erfüllt.
Es scheint unmöglich, dass dieser Prozess der Vorstellung ein organisches Analogon haben könnte – er hat aber eins. 1896 fragte sich der Psychologe James Mark Baldwin, ob Tiere, die Verhaltensexperimente anstellen, in den Evolutionsprozess einbezogen werden könnten, praktisch indem sie sich vorstellen, was geschehen würde, wenn sie etwas Neues vermöchten, was in Wahrheit jenseits ihrer Möglichkeiten liegt. Beispielsweise ähnelt ein Okapi einer Giraffe, doch sein Hals und seine Beine sind von normaler Länge. Nehmen wir an, ein abenteuerlustiges Okapi reckt
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