Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
Lagerhäusern haben. Wenn wir Klein Johnnie zum siebten Geburtstag ein Fahrrad schenken, führen wir ihn in eine neue Welt ein, in der es aufgeschlagene Knie gibt, Gangschaltungen, geplatzte Reifen, den Vergleich mit Freds Rad … Als in den 1960er-Jahren das Transistorradio in die westliche Kultur einbrach, veränderte es die Beziehungen der Teenager untereinander und zu den Popstars, wenn auch nicht annähernd so stark, wie das Mobiltelefon in den letzten Jahren unser ganzes Leben verändert hat. Auf einer Werbetour für das von ihm erfundene Telefon beeindruckte Alexander Graham Bell einen Bürgermeister derart, dass jener erklärte: »Welch eine wunderbare Erfindung, jede Stadt sollte eins haben.«
Artefakte durchlaufen eine Evolution, und die von ihnen ausgeführten Funktionen werden besser, umfassender, billiger. Doch sie verändern auch die Gesellschaft ringsum, sodass ihre »verbesserte« nächste Generation schon das Terrain bereitet findet. Das Modell T von Ford wäre ohne Tankstellen nicht möglich gewesen, die entstanden waren, um die viel teurere vorangehende Generation von Autos zu versorgen. Das Modell T wiederum und ähnliche bezahlbare Autos mit Privatsphäre auf den Rücksitzen veränderten einen Gutteil des Sexuallebens der jungen Männer und Frauen, die Zugang zu diesen Autos hatten. Die Regeln der Gesellschaft ändern sich in dem Maß, wie das Ford-Modell T, das Transistorradio, Zentralheizung, U-Bahn-Verkehr und Mobiltelefone ihren Kontext beeinflussen, und der Kontext seinerseits beschränkt oder lenkt die weitere Evolution des Produkts.
Die wenigsten Erfindungen haben Erfolgsgeschichten dieser Art; wie nahezu alle Arten von Organismen gedeihen sie eine Zeit lang, starben dann aber aus. Die wenigen, die überleben, finden eine Route, die sie in die Zukunft führt. Immer wieder treten sie in einen völlig neuen Phasenraum von Möglichkeiten ein, wo ihr ursprüngliches Design praktisch nutzlos ist, die neue Welt nun aber ein verbessertes Design hat. So, wie sich die ursprüngliche Steinzeitaxt mit ihrem Stiel und ihrer Schneide mehrmals verändert hat, finden wir eine neue Welt mit einem neuen Artefakt und einer neuen Funktion.
In Darwin und die Götter der Scheibenwelt haben wir beschrieben, wie die scheinbar starren Beschränkungen für die Energie, die man im Prinzip braucht, um einen Menschen oder eine Nutzlast in eine Erdumlaufbahn zu bringen, überwunden werden können, indem man den Kontext verändert. Wenn man eine Rakete verwendet, kann die benötigte Energiemenge, um einen 100 Kilogramm schweren Menschen in eine Synchronbahn zu bringen, anhand der Newton’schen Bewegungsgesetze berechnet werden. Es ist der Unterschied an potenzieller Energie, den der Gravitationsschacht des Planeten bewirkt. Das kann man nicht ändern, also scheint die Beschränkung zunächst idiotensicher zu sein.
Mitte der 1970er-Jahre wurde jedoch ein völlig neuer Vorschlag gemacht: die Weltraum-Bolas. Im Grunde ist das ein gigantisches Riesenrad in der Erdumlaufbahn. Der Reisende steigt in die Kabine, wenn sie an der oberen Atmosphäre vorbeischwingt, und steigt aus, wenn sie den erdfernsten Punkt erreicht hat. Eine Reihe solcher Geräte kann ihn einige Wochen später in eine Synchronbahn bringen.
Ein dritter Schritt auf der Technikleiter, derzeit noch nicht praktikabel, aber schon von Ingenieuren erörtert, ist der Weltraumlift. Der Science-Fiction-Autor und Futurologe Arthur C. Clarke war einer von mehreren Leuten, die die Idee hatten: Man bringt ein »Seil« hinauf in eine Synchronbahn und lässt es zu einem äquatorialen Landeplatz herab. Das Ergebnis wäre eine materielle Verbindung von einem Punkt in der Synchronbahn bis zum Erdboden. Wenn das erst einmal eingerichtet wäre, könnte ein System von Kabinen, Rollen und Gegengewichten, wie es bei den Aufzügen in Wolkenkratzern verwendet wird, einen Menschen sehr erfolgreich in die Umlaufbahn befördern. Gegengewichte oder ein anderer Mensch, der abwärts fährt, würden den Energiebedarf auf den zur Überwindung der Reibung notwendigen Betrag reduzieren.
Die Frage ist nicht, ob wir das inzwischen bewerkstelligen können. Wir können es nicht – sogar ein »Seil« aus Kohlenstofffasern ist zu schwach. Aber der Weltraumlift zeigt, wie eine Design-Route die Funktion von ihren frühesten, primitiven Beschränkungen wegführen kann, sodass ein völlig neues Ensemble von Regeln gilt und die alten Beschränkungen nicht aufgehoben, aber bedeutungslos
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