Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
zusammen mit uns entwickelt, weil sie einen Wert fürs Überleben hatten. Vor einer Million Jahre durchstreiften die Vorfahren des Menschen die afrikanischen Savannen, und ihr Leben hing tagaus, tagein davon ab, genug Nahrung zu finden und zu vermeiden, dass sie selbst Nahrung wurden. Das Wichtigste in ihrem Leben waren ihre Mitmenschen, die Tiere und Pflanzen, die sie aßen, und die Tiere, von denen sie sich nicht essen lassen durften.
In ihrer Welt gab es auch viele Dinge, die nicht lebten: Felsen, Flüsse, Seen und Meere, das Wetter, Brände (wahrscheinlich von Blitzschlägen ausgelöst), Sonne, Mond und Sterne. Doch selbst diese schienen oft über manche Eigenschaften des Lebens zu verfügen. Viele von ihnen bewegten sich, manche änderten sich ohne ersichtliches Muster, als handelten sie aus eigenem Antrieb, und manche konnten töten. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir im Lauf der Entwicklung der menschlichen Kultur dahin kamen, unsere Welt als das Ergebnis bewusster Aktionen lebender Wesenheiten zu betrachten. Sonne, Mond und Sterne waren Götter, sichtbare Beweise für die Existenz übernatürlicher Wesen, die im Himmel wohnten. Ein Donnergrollen, ein Blitz waren Anzeichen für den Unmut der Götter. Die Anzeichen dafür umgaben uns tagtäglich, also war daran nicht zu zweifeln.
Besonders Tiere und Pflanzen waren von zentraler Bedeutung für das Leben der frühen Menschen. Man braucht nur ein Buch mit ägyptischen Hieroglyphen durchzublättern, um zu sehen, wie viele davon Tiere, Vögel, Fische, Pflanzen sind … oder Teile von Tieren, Vögeln, Fischen und Pflanzen. Die ägyptischen Götter wurden mit Tierköpfen dargestellt, in einem Extremfall, beim Gott Chepri, war der Kopf ein kompletter Mistkäfer, schön ordentlich auf einem ansonsten kopflosen Menschenkörper angebracht. Chepri war ein Aspekt des Sonnengottes, und der Mistkäfer (oder Skarabäus) hatte damit zu tun, weil Mistkäfer Kugeln von Mist umherrollen und sie im Boden vergraben. Darum wird die Sonne, eine riesige Kugel, von einem riesigen Mistkäfer umhergerollt. Der Beweis dafür ist die Tatsache, dass die Sonne auch jeden Abend bei Sonnenuntergang im Boden (der Unterwelt) verschwindet.
Der Physiker und Science-Fiction-Autor Gregory Benford hat viele Artikel mit einem gemeinsamen Thema geschrieben: Grob gesagt neigen menschliche Denkweisen dazu, einer von zwei Kategorien anzugehören.* [* Gregory Benford: A creature of double vision. In: Gary Westfahl und George Slusser (Hrsg.): Science Fiction and the Two Cultures. Essays on Bridging the Gap between the Sciences and the Humanities. McFarland Publishers 2009, S. 228 – 236.] Die eine betrachtet die Menschheit als den Kontext – das Bezugssystem – fürs Universum, die andere das Universum als den Kontext für die Menschheit. Natürlich kann ein und dieselbe Person auf beiderlei Art denken, doch die meisten von uns neigen dazu, eine davon vorzuziehen. Die meisten Methoden, die Menschen in zwei Arten zu unterteilen, sind Unsinn. Wie es in dem alten Witz heißt, gibt es zwei Arten von Leuten: diejenigen, die glauben, es gebe zwei Arten von Leuten, und diejenigen, die das nicht glauben. Aber Benfords Unterscheidung erhellt vieles und birgt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.
Wir können es auch so formulieren: Viele Leute betrachten die Welt ringsum – das Universum – als eine Ressource für die Nutzung durch die Menschen; sie betrachten es auch als Widerspiegelung ihrer selbst. Das Wichtigste ist bei dieser Sichtweise immer auf den Menschen bezogen. »Was kann das für mich (oder: für uns ) bewirken?« – dies ist die wichtigste, oft sogar die einzige Frage, die zu stellen sich lohnt. Aus diesem Blickwinkel heraus heißt etwas zu verstehen, es in Begriffen menschlicher Angelegenheiten auszudrücken. Wesentlich an einer Sache ist der Zweck , und der wird dadurch bestimmt, wozu wir diese Sache verwenden. In dieser Weltsicht gibt es Regen, damit die Saat gedeiht und wir frisches Trinkwasser haben. Die Sonne existiert, um unsere Körper zu wärmen. Das Universum ist mit Blick auf uns entworfen worden, so aufgebaut, dass wir darin leben können, und wenn es uns nicht gäbe, wäre es bedeutungslos.
Es ist ein kurzer und natürlicher Schritt, Menschen als die Krone der Schöpfung zu betrachten, als Beherrscher des Planeten, Herren des Universums. Zudem kann man das alles tun, ohne sich bewusst zu sein, wie eng menschenbezogen diese Weltsicht ist, und man kann darauf beharren, man
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