Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
Gene enthalten. Wir haben gerade einmal 46 Chromosomen. In diesem Sinn ist eine Amöbe also komplexer als wir. Warum so viele? Weil eine Menge Organisation auf kleinem Raum notwendig ist, um alle Funktionen einer Amöbe in Gang zu setzen.
Im Jahr 2009 schrieb Brüssow einen Artikel »Der nicht ganz so universelle Baum des Lebens, oder Der Platz der Viren in der Welt des Lebens«* [* Harald Brüssow: The not so universal tree of life or the place of viruses in the living world. In: Philosphical transactions of the Royal Society of London , B 364 (2009), S. 2263 – 2274.]. Darin legte er dar, dass Darwins Baum des Lebens, eine schöne Idee, die von einer Skizze in der Entstehung der Arten herrührt und zum Sinnbild geworden ist, in der Gegend der Wurzeln ziemlich wirr aussieht, und zwar infolge eines Vorgangs, der horizontaler Gentransfer genannt wird. Bakterien, Archäa und Viren tauschen unbekümmert Gene aus, und sie können sie auch in die Genome höherer Tiere einfügen oder herausschneiden. Also kann ein Gen in einem bestimmten Bakterientyp von einer ganz anderen Bakterie stammen, von einem Archäum oder sogar von einem Tier oder einer Pflanze.
Die meisten dieser Austauschvorgänge werden von Viren bewerkstelligt, und davon gibt es eine Menge auf dem Planeten – wahrscheinlich zehnmal mehr Virenteilchen als alle anderen Lebensformen zusammen. Nun könnte man meinen, dass es bei all dem Austausch praktisch unmöglich wäre, Abstammungslinien einzelner Bakterien zu ermitteln. Erst recht erschiene es unmöglich, die Abstammungslinien der Viren zu ermitteln, die den Austausch vermitteln. Überraschenderweise ist dem nicht so, zumindest nicht ganz. Es gibt Hinweise in der Reihenfolge, in der spezifische Gene in vielen Viren auftreten, und wertvolle Hinweise liegen darin, auf welchen Organismen die Viren parasitieren. Manche parasitieren sowohl auf Archäa als auch auf Bakterien, was sie vermutlich schon taten, ehe sich die beiden Gruppen auseinanderentwickelten. Zudem gibt es Viren mit RNS -Genetik. Also stellt Brüssow die recht überzeugende Hypothese auf, diese speziellen Viren könnten Überbleibsel aus einer früheren RNS -Welt sein. Und weiterhin: Infektion durch urtümliche DNS -Viren könnte die DNS ins Erbgut aller jener vertrauten Geschöpfe eingeführt haben, um deren Genome wir heutzutage so viel Wirbel machen. Also könnten manche der Außenseiter-Biologen und Physiker doch recht gehabt haben, wenn auch aus den falschen Gründen.
Wenn das der Fall ist, müssen wir alle Arten, bei denen RNS in modernen Lebensformen eine Rolle spielt, mit anderen Augen betrachten. Der herkömmlichen Geschichte zufolge, die sich seit einiger Zeit nicht geändert hat, dient die RNS als bescheidener Bote, der die hochwichtige DNS -Sequenz zu den Ribosomen transportiert, großen Molekülstrukturen, in denen Proteine zusammengesetzt werden. Es gibt auch kleine RNS -Moleküle, die Aminosäuren zu den Ribosomen transportieren, damit daraus Proteine zusammengesetzt werden. Ribosome ihrerseits bestehen aus mehreren Arten von RNS , und etliche Forscher nehmen an, dass sie der zentrale Mechanismus des Proteinaufbaus in den Zellen sind, ihre wichtigste Funktion.
Diese Geschichte wird sich vielleicht bald ändern müssen.
Im Lauf der letzten zehn Jahre gab es eine Revolution auf dem Gebiet der Nukleinsäuren-Biologie, und fast alles drehte sich dabei um die RNS . Boten- RNS und Transfer- RNS sind nur die prosaischsten Aufgaben, die RNS in Zellen erledigen. Aber die RNS hat auch viele wichtigere Aufgaben (nachdem wir »prosaisch« gesagt haben, wäre in diesem Fall vielleicht »poetischer« angebracht). Als die DNS für das wichtigste Molekül in der Zelle gehalten wurde und der Proteinaufbau für die wichtigste Funktion (viele Lehrbücher sehen das noch so), wurden DNS -Stränge, die Proteine festlegten, indem sie Boten- RNS codierten, Gene genannt. Die DNS -Stränge oberhalb und unterhalb davon, die keine Proteine festlegten, hielt man größtenteils für »Müll- DNS « ohne Bedeutung für den Organismus. Die Müll- DNS war demzufolge einfach als Nebenprodukt früherer Entwicklungen vorhanden, aber da es nicht viel kostete, sie zu vervielfachen, gab es keinen evolutionären Grund, sie zu eliminieren.
Tatsächlich gibt es eine Menge Überreste von alten Genen und recht viele Sequenzen von weit zurückliegenden Virenangriffen, die wirklich Müll sein könnten. Es zeigt sich jedoch, dass fast die gesamte DNS zwischen den Genen
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