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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
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geballten Fäusten rieb sich Phillip in kreisrunden Bewegungen über die Augen. Vergessen, schnell vergessen.
    Es gab viele Erinnerungen, die er nicht abrufen wollte, die ihn ängstigten wie die Sorge, die einbrechende Dunkelheit werde kein Ende mehr nehmen. Weg damit! Nur nicht aufkommen lassen!
    Krawinckel kam zum Ende des Albums. Die Bilder von Sunita fand er nicht. Er fluchte vor sich hin. Ihm fehlte jede Vorstellung über deren Verbleib. Auch das Bild von Tante Lilly war verschwunden.
    Noch einmal blätterte er durch die Klarsichthüllen. Aussichtslos. Keine Aufnahmen von Sunita. Dafür stieß er noch auf eine seiner Lieblingsaufnahmen, er und Lisa-Marie.
    Aus der zweiten Ehe seines Vaters mit einer früheren Varietétänzerin, einer Zufallsbekanntschaft während eines Kurzurlaubs, war Lisa-Marie hervorgegangen. Früh hatte sich abgezeichnet, dass sie eine liebenswerte Frohnatur werden würde. Er liebte diese außerordentlich hübsche, jedoch aufgrund ihrer Geistesschwäche hilflose Halbschwester und versorgte sie. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge erinnerten ihn an die Jugendfotos der Großmutter, die er sich nach deren Ableben häufig anschaute.
    Lisa-Marie! Sein Blick fiel auf die Tapetentür. Er zuckte mit den Schultern, stand auf und ging auf einen zwischen zwei Blumensträußen in Kopfhöhe neben der Tür angebrachten goldgerahmten Spiegel zu. Intensiv betrachtete er sich, wobei er seinen Kopf mehrfach nach links und rechts drehte. Er zog die Augenbrauen hoch, weil er glaubte, dass die Tränen seine Augen verengt hätten.
    Beuchert und dessen larmoyantes Gerede fielen ihm wieder ein, sein triefendes Selbstmitleid und seine erbärmliche Schwäche. »Was bleibt mir anderes übrig«, hatte Beuchert gesagt, bevor er sich seiner Erwartungshaltung nicht mehr widersetzt hatte und eingeknickt war. Lächerlich!
    »Was bleibt denn mir anderes übrig?«, sagte Krawinckel zu seinem Spiegelbild, ging zur Glastür und rief: »Herr Kellermann? Mike! Ich brauche Sie.«

6. Kapitel
    Um Punkt 17:00 Uhr erschütterte ein Knall das Dienstzimmer von Hanspeter Schultz in der Staatsanwaltschaft Frankfurt. Schultz stieß einen spitzen Schrei aus. Er bekam einen tomatenroten Kopf, tanzte auf dem linken Fuß in seinem Zimmer herum und hielt den rechten Fuß mit beiden Händen fest. Sein stoßweiser Atem glich einem Hecheln. Mit ungelenken Sprüngen versuchte er, das Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig seinen Schuh zu öffnen. Er begann, vor sich hin zu fluchen.
    Es klopfte an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten trat sein Kollege Wild aus dem Nebenzimmer ein. »Was war denn das, Hanspeter? Ist alles in Ordnung? Ich habe nur einen Schlag gehört und mir Sorgen um dich gemacht.«
    Schultz setzte sich in seinen Sessel, zog den rechten Schuh aus und rieb seinen großen Zeh. »Das war die Strafe.«
    »Welche Strafe? Wofür?«
    »Ich hielt es nicht mehr länger durch.«
    »Du sprichst in Rätseln.«
    »Ganz einfach. Immerhin habe ich heute auf das Kantinenessen verzichtet, obwohl es eines meiner zahlreichen Lieblingsessen gab. Heute ist Mittwoch. Eintopftag. Gerade eben habe ich es nicht mehr ausgehalten und wollte mir aus meiner Schreibtischschublade einen Beutel Nougatpralinen herausholen. Dabei habe ich nicht bedacht, dass wir hier mit Justizmöbeln ausgestattet sind. Die Schubladen sind nicht arretiert. Ich habe wohl zu heftig gezogen. Das Ergebnis siehst du, wenn du um meinen Schreibtisch herumgehst und auf den Boden schaust.«
    »Dann ist ja nichts weiter passiert, und ich kann gehen.«
    »Bis auf meinen Fuß. Den muss ich erst einmal begutachten«, rief Schultz seinem Kollegen Wild nach, der das Zimmer schon wieder verlassen hatte. Seine Zigarre lag ausgekühlt im Aschenbecher. Der Kaffee, den er sich entgegen den sonstigen Gepflogenheiten wegen der langen Abwesenheit seines Zimmerkollegen Diener selbst aufgesetzt hatte, schmeckte ihm nicht. Er war nicht stark genug. Außerdem war er abgestanden. Diener hatte offenbar die Kaffeemenge besser im Griff.
    Schultz bückte sich und hob die Pralinen auf. 98 Kilogramm hin, 98 Kilogramm her. Selbstverständlich würde Traudel heute Abend beim Zubettgehen oder morgen beim Frühstück misstrauische Blicke auf seinen Bauch werfen. Vielleicht würde sie sogar die ersten wohlvertrauten spöttischen Bemerkungen machen. Da musste er durch. Dieses Problem würde er in den nächsten Tagen mit einer Diät aus hartgekochten Eiern angehen. Nicht heute. Für die ausgebliebene Beförderung musste

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