Das juengste Gericht
ein Trost her. Mit den Daumennägeln öffnete er den Verschluss und warf einen abwägenden Blick in die Tüte. Mit der großen hellbraunen Nougatpraline mit dem aufgestempelten Rubensbildnis würde er anfangen. Er steckte sie vollständig in den Mund, schloss die Augen und begann zu kauen.
Für einen Augenblick vergaß er seinen schmerzenden Fuß. Sein Hunger war groß. Nicht nur sein gegenwärtiges Gewicht, sondern auch die Berge von Akten, die sich auf seinem Aktenbock türmten, hatten ihn von einer Mittagspause Abstand nehmen lassen. Natürlich war das Kantinenessen kein kulinarischer Hochgenuss. Da gab es Besseres, wie er wusste. Schließlich ging er gerne in ausgewählte Frankfurter Restaurants. Außerdem liebte er es, auch selbst zu kochen. Nicht schlecht, wie er fand. Eintöpfe schmeckten allerdings auch in Kantinen, weil sie in großen Pötten herzhaft zubereitet werden konnten.
Der Fuß pochte höllisch. So, wie er es sonst nur von seinen Gichtanfällen kannte. Schultz zog die Socke aus und sah, dass der große Zeh gerötet war. Er bewegte ihn hin und her und diagnostizierte, dass kein Bruch vorlag.
So viel Glück verdiente eine Belohnung. Mit dem nächsten Griff in die Tüte erwischte Schultz zwischen Zeigeund Mittelfinger ein Stück weißer Schokolade, zu einer Walnuss geformt und ebenfalls mit Nougat gefüllt. Er schob es in den Mund, als die Tür aufflog. Diener stürmte herein, erfasste die Situation und setzte ein breites Grinsen auf. »Erwischt, mein Lieber. Wenn ich das Traudel erzähle, gibt es Gegenwind.«
Schultz lächelte. »Ich muss erst einmal runterschlucken.«
»Wieso liegt eigentlich ein nackter Fuß auf dem Aktenbock? Drehst du jetzt langsam durch? Oder hast du wieder einen Gichtanfall?«
»Ich bin vor lauter Arbeit nicht zum Mittagessen gekommen. Genügt das als Erklärung? Den Rest erkläre ich dir ein anderes Mal. Jetzt erzähle schon. Du warst ziemlich lange unterwegs.«
»Das liegt nur teilweise an der Dauer der Obduktion des Mädchens. Ich bin mit der Straßenbahn zum Gerichtsmedizinischen Institut nach Niederrad gefahren. Auf dem Rückweg hatte die Linie 21 einen technischen Defekt und blieb liegen. Die Behebung dauerte einige Zeit. Außerdem hatte die Obduktion erst mit einiger Verspätung begonnen. Frau Dr. Lubitsch war pünktlich, aber ihr Chef, Professor Wagenknecht kam über eine halbe Stunde zu spät. Du kennst ihn ja. Die personifizierte Selbstherrlichkeit. Eine Entschuldigung hat er natürlich nicht für nötig gehalten.«
Das Gesicht von Schultz verfinsterte sich. »Und? Ergebnis? Nicht des Straßenbahnschadens, sondern der Obduktion.«
»Das Mädchen hat eine schwere Wunde am Kopf, die ist durch den Sturz hervorgerufen worden. Das steht aufgrund des Straßenschmutzes fest, der sich in der Wunde befindet. Der Aufprall auf dem Pflaster hat zu einer Schädelverletzung geführt.«
»Heißt das, sie hat Selbstmord begangen? Was wissen wir denn über sie und ihre Lebensverhältnisse?«
Diener legte seine Aktentasche auf dem Schreibtisch ab und setzte sich in seinen Sessel. »Du stellst zu viele Fragen auf einmal. Lass uns vorerst beim Obduktionsergebnis bleiben. An ihren Händen befinden sich Schürfungen und starker Farbabrieb. Professor Wagenknecht meint, dass diese von einem reflexartigen Festhalteversuch am Geländer herrühren. Außerdem weist sie Schürfungen und Quetschungen im Bauchbereich auf. Nach Überzeugung von Professor Wagenknecht handelt es sich dabei um Spuren, die belegen, dass der Körper über das Geländer geschoben worden ist. Es gibt keine Hinweise auf eine Gegenwehr, wie etwa fremde Hautpartikel oder fremdes Blut unter ihren Fingernägeln. Er folgert daraus, dass sie mit dem Rücken zum Täter gestanden, also auf die Zeil hinuntergeschaut hat.«
Schultz packte seine Pralinen wieder in die Schreibtischschublade, ohne den Blick von Diener zu wenden. Mit eiserner Miene nahm er aus der Tasche eine Zigarre, biss das Endstück ab und setzte sie mit einem Streichholz in Brand. Langsam ging er zum Fenster, klappte es auf und betrachtete, wie der prasselnde Regen die Scheibe herablief. »Wenn ich das richtig verstehe, sprechen diese Spuren dafür, dass das Mädchen nicht freiwillig nach unten gesprungen ist. Haben sich die Mediziner dazu geäußert?«
»Ja, das haben sie. Als der Befund sichtbar wurde, hat sich Professor Wagenknecht anstelle Frau Doktor Lubitsch intensiv der Sache angenommen und sich nicht nur auf das Diktat des Protokolls beschränkt.
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