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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
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großen Wohnhaus. Ihm fiel ein, dass seine Eltern nie für ihn Zeit gehabt hatten. Er erinnerte sich, dass der Vater in seiner Eigenschaft als ärztliche Kapazität ständig unterwegs gewesen war, zu Tagungen, Vorträgen und Seminaren. Seine Pflicht glaubte er damit erfüllt zu haben, dass er nahe der Universitätsklinik im Frankfurter Stadtteil Niederrad ein Grundstück erworben und dort eine Villa errichtet hatte.
    Früh war ihm seine erste Frau davongelaufen. Sie war das einzige Kind eines wohlhabenden norddeutschen Kaufmanns gewesen, also eine durchaus standesgemäße Verbindung. Allerdings hatte sie nach dem Abitur nie einen Beruf erlernen wollen und müssen. Spöttisch hatte sie auf entsprechende Fragen gebetsmühlenartig geantwortet, dass sie von Beruf Tochter sei und dem Leben nur die schönen Seiten abgewinnen wolle. Sie hatte folglich intellektuell mit seiner Entwicklung nicht Schritt gehalten und war des Lebens an seiner Seite bald überdrüssig geworden. Die aus ihrer Sicht stereotypen, gestelzten Unterhaltungen mit Marionettencharakter hatte sie bald nach Phillips Geburt sattgehabt. Ein hübscher Latino hatte ihr den Abschied leicht gemacht.
    Phillip betrachtete seine spitz gefeilten Fingernägel und fuhr mit den Fingern über den farblosen Nagellack. Er liebte diese angenehm weiche Glätte. Wie hätten sich wohl die Hände seiner Mutter angefühlt?
    Auf den nächsten Blättern des Ordners fanden sich einige Fotos, die in den Vereinigten Staaten aufgenommen waren. Nach dem Verschwinden der Mutter war Phillip von seinem Vater wegen der konfusen häuslichen Verhältnisse für ein Jahr an eine amerikanische Familie in den USA vermittelt worden. Er war dort wie ein eigenes Kind aufgenommen worden, hatte das Ehepaar der Gastfamilie mit »Dad« und »Ma« angesprochen und war mit Begeisterung zur Schule gegangen. Es hätte ihm durchaus gefallen können, wenn er nur nicht immer hätte dankbar sein müssen. Dankbar für alles, selbst für die Luft zum Atmen. Schrecklich. Als ihm »Dad« einmal nach Rückkehr von einer Geschäftsreise einen Gürtel als Geschenk mitgebracht hatte, war er von »Ma« bedrängt worden, »Dad« aus Dankbarkeit unbedingt einen Kuss zu geben. Er hatte keinen Ausweg gesehen und gehorcht, aber es hatte ihn angewidert. Ständig war ihm dieses Erlebnis in Erinnerung gekommen. Noch monatelang hatte es ihn geschüttelt und er hatte sich immer wieder über die Lippen wischen müssen.
    Phillip Krawinckel blätterte eine Seite weiter. Lange betrachtete er dort das Foto einer älteren Dame mit hochgesteckten weißen Haaren und lächelte. Das war seine verehrte Oma gewesen, eine wunderbare Frau, die ihm viel bedeutet hatte.
    Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war die Großmutter sein zentraler Ansprechpartner geworden, eine stämmige, humorvolle Geschäftsfrau, die mit beiden Beinen im Leben gestanden hatte. Sie hatte ihm das Nähen und Bügeln und weitere Überlebenskünste beigebracht. »Du weißt nie, wie du es einmal brauchst. Dann wirst du dankbar dafür sein.«
    Jetzt musste das Bild von Tante Lilly kommen. Die Großmutter war ein anderes Kaliber gewesen als Tante Lilly, die vom Geiz zerfressen und unverheiratet geblieben war, auf die Anrede »Fräulein« Wert gelegt und ihm zur Konfirmation einen Gutschein zur Auswahl eines Buches aus ihrer Bibliothek überlassen hatte. Zur Einlösung war es nie gekommen, weil die Tante seinen Besuchen widerstanden und schlicht die Tür nicht geöffnet hatte. Phillip hielt noch immer das Album in der Hand und durchsuchte die nächsten Blätter und Klarsichthüllen nach dem Bild von Tante Lilly. Er konnte es nicht finden. Hatte jemand das Bild heimlich entnommen? Und wenn ja, warum?
    Die nächsten Fotos zeigten ihn als jungen Mann, in Paris aufgenommen. Dorthin war er in den Ferien regelmäßig zu einer befreundeten Familie seines Vaters gefahren. Im Dachgeschoss eines Altbaus im sechsten Arrondissement hatten sie ihm eine Mansarde überlassen, die früher der Unterbringung des Gesindes gedient hatte und jetzt mangels Bediensteter nicht mehr gebraucht wurde. Dort hatte er erste Kontakte zu Mädchen, rasch aber auch zu Männern ausgelebt.
    In der Dämmerung war er einmal über den Boulevard St. Denis flaniert, als ihm ein Inder zwischen die Beine gegriffen hatte. Verstört war ihm bewusst geworden, dass ihm die Zudringlichkeit nicht missfallen hatte. Mit dem Inder war er zunächst in ein einschlägiges Lokal und dann in dessen Appartement gegangen.
    Mit

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