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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
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Mainmetropole erhöhten.
    Auf dem jenseitigen Ufer des Mains war der dunkelrote Wohnturm des Hotels Lindner im Deutschherren-Viertel auf dem ehemaligen Schlachthofgelände zu erkennen gewesen, der ihn an Boschs Gemälde vom Turm zu Babel erinnerte.
    Er trank seinen Eisbock fast in einem Zug leer und kippte den Schnaps hinterher. Als er sich nach der Bedienung umdrehte, bekam er Blickkontakt mit der Wasserstoff-Blondine. Sie machte eine einladende Handbewegung und deutete auf den Stuhl neben sich.
    Nur für einen Augenblick zögerte Beuchert. Dann griff er nach seinem Bierglas, erhob sich und ging zu der Dame am Nebentisch. »Beuchert, mein Name, Wolfgang Beuchert. Darf ich?«
    »Von Herzen gerne. Setzen Sie sich«, sagte die Frau mit unüberhörbarem slawischen Akzent. »Ich heiße Swetlana Kaniewski. Sie dürfen mich beim Vornamen nennen.«
    Beuchert nickte und bestellte eine Runde Schnaps und für sich einen weiteren Eisbock. Die Blondine betrachtete ihn und lächelte dabei. Er schwieg, bis die Getränke auf dem Tisch standen. Dann erhob er das Schnapsglas und stieß es gegen das von Swetlana. »Auf Ihr Wohl, Verehrteste.«
    Er kippte den Schnaps in einem Zug ab. Swetlana folgte ihm.
    »Du hast viel Durst, Wolfgang. Bei uns in Polen sagt man, wer viel Durst hat, hat auch viel Sorgen. Stimmt das?«
    Beuchert winkte der Kellnerin. Er nickte mehrfach. »Wie wahr! Deshalb muss man die Sorgen gründlich ertränken. Dann bleiben immer noch genug übrig.«
    »Hast du denn wirklich so viele? Du siehst gar nicht so aus.«
    »Und ob.«
    »Woran liegt das? Hast du Kummer in der Familie, fehlt es dir an Geld oder bist du krank? Erzähle ruhig. Was ist es?«
    Die Bedienung stellte zwei neue Schnäpse hin. Beuchert nippte nur daran. »Eigentlich alles zusammen. Manchmal denke ich, es ist alles zu viel und frage mich, wie und warum es weitergehen soll.«
    »Kannst du mir das erklären?«
    »Sieh mal, statistisch gesehen habe ich noch runde fünfzehn Jahre zu leben. Leben? Was bedeutet das schon? Ganz komprimiert heißt das, dass ich noch mehr als fünftausend Frühstücke vor mir habe. Entsprechend oft werde ich meine Kaffeetasse anschließend unter den Wasserhahn halten, abtrocknen und in den Schrank stellen.«
    Swetlana nahm ebenfalls ein Schlückchen von ihrem Schnaps und legte Beuchert ihre Hand auf den Arm. Dann drehte sie seinen Arm auf die Innenseite und betrachtete seine Handfläche.
    »Du bist schwermütig. Das kommt nur, weil du wahrscheinlich von Kindesbeinen an verwöhnt worden bist. Wenn ich dir erzählen würde, wie ich mich immer durch das Leben schlagen musste, würdest du ganz still und zufrieden sein. Ich kann wahrsagen und aus der Hand lesen. Dir ging und geht es nicht schlecht. Dir geht es vielmehr zu gut. Du bist nur sehr allein. Das ist dein Problem, sonst nichts.«
    Beuchert wollte spontan antworten und widersprechen. Doch es fiel ihm schwer, die aufziehenden Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit als Teil seiner gegenwärtigen Persönlichkeit zu verstehen. War er der Junge gewesen, der mit seinen Eltern in einer kleinen Wohnung in einem Altbau an einem Hang gewohnt hatte und jeden Mittag mit rund fünfzehn anderen Kindern bei verschiedenen Spielen den Berg hinaufund heruntergelaufen war? Der zwischendrin an das ebenerdige Küchenfenster zur Mutter lief, dort ein Brot mit selbstgemachter Marmelade entgegennahm, es herunterschlang und sofort wieder zu den anderen Kindern auf die Straße rannte, während er noch die Reste ableckte, die um seine Lippen klebten? Natürlich. Aber hatte der damalige Mensch überhaupt noch etwas mit dem heutigen Wolfgang Beuchert zu tun?
    Er bestellte einen weiteren Eisbock und noch zwei Klare. Zu dumm, dass er immer nur Bruchstücke seiner Kinderzeit abrufen konnte, niemals den Gesamtzusammenhang. Er spürte, dass er Swetlana nur noch ungereimte dümmliche Kleinigkeiten entgegensetzen konnte, obwohl er sich insgesamt elend fühlte. Beuchert nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierkrug, stellte ihn dann wieder sorgfältig in der Mitte des Bierdeckels ab und fuhr sich mit unterdrücktem Stöhnen durchs Haar. »Ich hatte immer zu kämpfen.«
    Swetlana drückte seine Hand. Ein Anflug von Spott zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Du tust mir in der Seele leid. Was sind das für schreckliche Kindheitserlebnisse, die du zu verkraften hast?«
    »Du nimmst mich nicht ernst. Aber es ist schön, wie du mir zuhörst. Das tut gut. Also, pass auf! Ein unvergessliches Ereignis war der Tag, als

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