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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
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mir mein fast zehn Jahre älterer Bruder ein kleines Transistorradio geschenkt hatte. So groß wie eine Zigarettenschachtel, mit blauem Plastikrahmen. Tagelang habe ich alle möglichen Sender gehört, bis zu meinem Entsetzen plötzlich die Töne verstummten, weil die Batterie leer war. Welch ein Kraftakt war es gewesen, wie viele Tränen hat es mich gekostet, vom Vater neue Batterien zu erhalten. Er war so geizig. Oder so arm.«
    »Diese Geschichte verstehe ich. So etwas ist nicht schön für ein Kind. Man behält es lange, manches Mal ein Leben lang, wie man sieht.«
    Wieder prostete ihr Beuchert zu und leerte sein Schnapsglas.
    »Wenn ich dir jetzt erzähle, dass ich schon Erfahrungen mit anderen Wahrsagerinnen gemacht habe, wirst du es nicht glauben. Mutter hat mich jede Woche einmal zu Sophie mitgenommen, einer schmalen, verwitterten Kartenlegerin mit langen blondgefärbten Haaren. Am Ende jeden Besuchs ließ sie mehrere Geldscheine in Sophies Hände gleiten. Heimlich, weil Vater auf ein Häuschen sparte.«
    »Hast du jetzt Angst, dass ich von dir Geld will? Das musst du nicht. Mich interessiert nur, ob ich recht damit behalte, dass deine Sorgen in deiner Vereinsamung bestehen. Ich sage dir gleich noch mehr dazu. Rede erst einmal weiter.«
    »Immerhin ließ mich mein Vater Mitglied des örtlichen Fußballvereins werden. Das war fantastisch. Was für ein Ventil, welch eine tolle Kameradschaft. Nach dem ersten Spiel in der Mannschaft haben sie mich unter der Dusche geschnappt, festgehalten und von Kopf bis Fuß mit Mohrenköpfen eingerieben. Das war das Aufnahmeritual. Danach habe ich dazugehört.«
    »Das hört sich alles nicht wirklich schlimm an«, sagte Swetlana.
    »Von meinen Fußballfreunden habe ich mich dazu anstiften lassen, im Kirchgarten mit dicken Pflastersteinen auf die bunten Glasfenster der neben unserer Wohnung gelegenen Kirche zu werfen. Zu meinem Pech haben sich dort gerade Menschen aufgehalten. Als die ersten Fenster zu Bruch gingen und die Splitter ins Kircheninnere stürzten, kamen die erschrockenen Gläubigen nach draußen. Alle Fußballkameraden konnten weglaufen, nur mich haben sie geschnappt und dem Pfarrer übergeben. Der Pastor sagte meinem Vater irgendetwas von Schadensersatz. Kaum war er gegangen, hat Vater mich am Kragen geschnappt und ist mit mir in den Keller gegangen. Dort hat er seinen Gürtel aus den Schlaufen der Hose gezogen und minutenlang zugeschlagen.« Beuchert seufzte und leerte seinen Eisbock. »Bei früheren Anlässen hat er immer nur gezielt zugeschlagen, während der Sommermonate auf die entblößten Waden, die aus den kurzen Lederhosen herausschauten. Im Winter auf die Fingernägel der ausgestreckten Hände. Dieses Mal hat es keine Tabus gegeben, sondern Prügel bis zur Demut.
    Vater hatte nur noch von Bauplätzen und Bausparverträgen geredet und ständig das Haushaltsbuch gewälzt und gerechnet. Als gerade alle Probleme gelöst schienen, war plötzlich Mutter nicht mehr da. Einfach verschwunden. Über Nacht. Die Gründe und Zusammenhänge habe ich damals nicht verstanden. Erst viel später war mir klar geworden, wie unerträglich meine Mutter das Korsett täglich zugeteilten Haushaltsgeldes empfunden hat, wie froh sie gewesen war, als ein Gartenfreund aus der nahe gelegenen Kleingartenanlage ihr vermittelt hatte, das Leben bestehe nicht nur aus der permanenten Berücksichtigung von Soll und Haben.«
    Mit Daumen und Mittelfinger schnippte Beuchert die Kellnerin herbei. Er bestellte eine weitere Runde und starrte der Bedienung beim Wegdrehen und dem Gang zum Tresen kopfschüttelnd aufs Gesäß. Der Umfang erinnerte ihn an die Figur seiner Frau. Er zog geräuschvoll die Nase hoch, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Gesicht in die geöffneten Hände.
    »Kostete der Kleingarten nicht auch Geld? Wieso hat dein Vater sich dazu hinreißen lassen?«, fragte Swetlana.
    »Er hatte sich durch den Anbau von Gemüse Einsparungen erhofft. Ich war glücklich mit dieser Abwechslung. Dieser Garten war eine Weile zu meiner Zuflucht geworden, wenn mir die Enge der elterlichen Wohnung die Luft zum Atmen abgedrückt hat. Dort unterm Birnbaum habe ich Stunden mit meinem Transistorradio zugebracht und einmal, während eines Gewitters, habe ich Gott gesehen. Davon bin ich überzeugt. Auch heute noch. Eine undefinierbare gleißende Lichterscheinung, ein unbestimmbares Wohlgefühl, ein unerklärlicher innerer Frieden.«
    »Hat dein Vater wieder geheiratet?«
    »Nein. Mutter

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