Das juengste Gericht
kehrte nach einem Jahr Abwesenheit nach Hause zurück. An demselben Tag hat sich mein Bruder davongemacht. Ohne Abschiedsbrief, ohne Erklärung. Er hat auf dem Stuhl neben seinem Bett einen Damenslip zurückgelassen. Das war alles. Mein Vater wurde noch geiziger. Als ich konfirmiert wurde, habe ich einen beim Schneider abgeänderten alten Anzug meines Vaters tragen müssen. Alle anderen Konfirmanden waren mit neuen dunklen Anzügen ausgestattet worden.«
Als eine größere Entwürdigung hatte Beuchert nur noch seinen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt empfunden. Obwohl er sich schon angetrunken fühlte, hatte er sich so weit unter Kontrolle, dass er diesen Teil seiner Biografie für sich behielt.
Urplötzlich fühlte er einen starken Drang, zur Toilette zu gehen. Er sah sich kurz nach dem Hinweisschild um, schob seinen Stuhl zurück und machte sich auf den Weg. Als er in dem Urinal ein kleines Fußballtor aus Plastik entdeckte, vor dem an einem Faden ein winziger Ball aufgehängt war, der mit entsprechendem Urindruck ins Tor befördert werden sollte, lachte er auf. Die Übung machte ihm Spaß, und er pinkelte ausgiebig.
Kaum war er in das Lokal zurückgekehrt und hatte seinen Platz wieder eingenommen, ergriff Swetlana erneut seine Hand.
»Jetzt haben wir uns warm geredet. Zeige mir noch einmal deine Hand.« Sie betrachtete Beucherts Handfläche intensiv und fuhr mit dem Finger darüber. »Hier, das ist die Lebenslinie. Die interessiert uns jetzt nicht, aber sie ist schön lang. Diese hier, die in einem Winkel von neunzig Grad dazu verläuft, zeigt die Wechselfälle des Lebens. Ich sehe, dass du in letzter Zeit Fehler gemacht hast. Stimmt das? Du suchst mein Mitleid, weil du Schuld auf dich geladen hast.«
Beuchert zupfte der an seinem Tisch vorbeilaufenden Kellnerin an der Schlaufe ihrer weißen Schürze und bestellte noch zwei Klare und die Rechnung. Wirklich fahrtüchtig fühlte er sich nicht mehr. Aber er wollte plötzlich weg. Diese Frau würde ihm nicht helfen können. Er tat ihr nicht einmal leid. Dennoch drängte ihn eine unbekannte innere Kraft dazu, noch ein wenig mit ihr zu plaudern. Jetzt, wo es konkret wurde. »Nur so viel will ich dir sagen. Ich habe mich versündigt. Nicht nur an einem Menschen, vermutlich an mehreren Personen. Ich trage schwer daran. Alles würde ich geben, um mein Tun rückgängig zu machen. Aber niemand hilft mir dabei. Und es geht immer weiter. Ich komme aus der Falle nicht mehr heraus. Die Zwänge sind so groß, dass ich mich immer mehr verstricke.«
»Hast du keine Kinder, die du liebst und für die du da sein musst?«
»Kinder?« Beuchert starrte in sein Glas. »Ich habe mich schon als junger Mann unsterblich in eine kindliche Liliputanerin verliebt, die auf dem Mainfest in einer Schaubude als Tänzerin auftrat. Leider wurde nichts daraus. Eines Tages war das Fest vorbei, der Stand abgebaut und meine Primaballerina verschwunden. Ich heulte viele Tage lang. Die Kleine fehlte mir.« Er wischte sich über die schweißnasse Stirn und die Augen. »Die Beziehung zu meinen Kindern habe ich ruiniert. Da ist nichts mehr zu retten. Aber das soll nicht dein Problem sein. Das geht nur mich an.«
»Du darfst das nicht so schwarz sehen. Das ist sicher alles zu reparieren, wenn du dich nur ein bisschen anstrengst. Ich sehe das in deiner Hand. Du darfst nur keinen Fehler machen, hörst du?« Beuchert fuhr auf. Plötzlich glaubte er, Swetlana sei auf ihn angesetzt worden. Aber von wem und warum? Auf einmal wollte er nur noch weg. »Humbug! Gar nichts siehst du. Du weißt ja überhaupt nichts. Sonst hättest du es gesagt. Alles dummes Geschwätz. Ich benötige keinen billigen Trost. Was ich brauche ist Hilfe und Erlösung. Von dir kommt nur warme Luft. Glaubst du, ich bin so betrunken, dass ich das nicht mehr bemerke? Wahrscheinlich bist du eine Halbprofessionelle und suchst ein gemachtes Bett. Aber nicht bei mir. Darauf fällt ein Wolfgang Beuchert nicht herein. Der ist ein ausgeschlafenes Kind.«
Er knallte einen Fünfzig-Euro-Schein auf den Tisch und verließ grußlos das Lokal.
Als er nach Hause kam, war es bereits nach 19:00 Uhr. Wirtschaftlich gesehen hatte ihn das Gespräch mit Krawinckel gerettet, jedenfalls vorläufig. Und trotzdem: Das eingeforderte Entgegenkommen machte ihn krank. Ständig kreisten die Gedanken in seinem Kopf herum. Die Situation erschien ihm ohne Ausweg. Mit gesenktem Blick streifte er durch die Räume auf die Küche zu. Er hatte Hunger. In der Küche
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