Das juengste Gericht
den Vorfall.«
»Es geht uns nicht nur um den Ablauf auf der Zeil. Für uns sind auch Informationen über die Gewohnheiten des Mädchens, seine Freundinnen und Freunde und noch eine Reihe anderer Dinge von Bedeutung, die uns auf eine Spur führen könnten. In diesem Fall sind Sie die Klassenlehrerin der kleinen Sunita. Sie haben Erfahrung mit Kindern, mit ihren Eigenschaften und Verhaltensweisen. Deshalb rufe ich Sie an. Sie würden uns sehr helfen, wenn Sie uns möglichst sofort eine Gelegenheit zu einem Gespräch geben würden.«
Frau Raasch zog hörbar den Atem ein. »Wie schrecklich das alles ist. Unvorstellbar. Dieses liebenswerte, sanfte Geschöpf. Was ist denn genau passiert?«
»Genau darüber würden mein Kollege Köhler und ich uns gerne mit Ihnen persönlich unterhalten.«
Einen Moment lang zögerte Frau Raasch. Dann siegte die Neugier über die Unannehmlichkeit eines unerwarteten Besuchs.
»Ich wohne in der Eschenheimer Anlage 31, im obersten Stockwerk. Sie müssen nicht viele Treppen laufen, weil es einen Fahrstuhl gibt. Ausnahmsweise funktioniert er heute auch. Wie lange werden Sie brauchen, bis Sie bei mir sind? Ich müsste noch ein bisschen aufräumen. Durch den Unterricht vormittags komme ich immer erst gegen Abend dazu.«
»Machen Sie sich keine Mühe. Wir wollen nicht lange bleiben. In etwa zehn Minuten müssten wir bei Ihnen sein.«
Schreiner beendete das Gespräch und klopfte Köhler auf die Schulter. »Komm, Günter. Frau Raasch erwartet uns. Der Stimme nach scheint es sich um eine Dame in der zweiten Hälfte der Lehrerkarriere zu handeln.«
Sie verließen das Restaurant, gingen die Große Friedberger Straße entlang, passierten die Alte Gasse und die Petersstraße und bogen nach links in die Eschenheimer Anlage ein.
Bei dem Haus Nummer 31 handelte es sich um einen gepflegten Altbau aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die seitlich gelegene Eingangstür des von der belebten Straße zurückgesetzten Gebäudes war durch eine Hofeinfahrt und einen fantasielos begrünten Vorgarten zu erreichen.
Auf dem Klingelbrett aus glänzendem Messing fand Schreiner unschwer unter den einheitlich in Schwarz auf Weiß gedruckten Namensschildern die Aufschrift »Raasch-Bäumer«. Er fragte sich einen Augenblick lang, was es mit dem Namen »Bäumer« auf sich habe und drückte die Klingel.
»Ja, bitte?«, meldete sich die ihm vom vorangegangenen Telefonat bekannte Stimme von Frau Raasch.
»Köhler und Schreiner. Wir haben vor ein paar Minuten telefoniert.«
Der Summer wurde betätigt. Schreiner und Köhler betraten das Gebäude und fuhren mit dem Aufzug in den letzten Stock.
Die stillos in weißem Kunststoff gehaltene Eingangstür zur Etagenwohnung war einen Spalt geöffnet. In Augenhöhe war eine schmale Sicherheitskette gespannt.
Schreiner zwinkerte Köhler zu. »Ein einziger Tritt dagegen und das Ding ist auf«, flüsterte er.
Im Weitergehen fingerte er aus seiner Brieftasche seinen Dienstausweis und streckte ihn in Richtung des mausgrauen Augenpaars, das durch die handbreite Öffnung lugte. »Frau Raasch, vermute ich? Hier bitte, mein Dienstausweis. Damit Sie sich keine Sorgen machen müssen. Den vom Kollegen Köhler dürfen Sie auch sehen.«
Eine knochige Hand griff durch den Spalt nach dem Ausweis. Sekunden später wurde die Sicherheitskette zurückgezogen. Eine kleine Frau in einem schmucklosen dunkelbraunen Wollstoffkleid mit linksseitig gescheitelten, glatten grauen Haaren, die auf der rechten Seite von einer Klammer aus der Stirn gehalten wurden, und übergroßer runder Nickelbrille öffnete die Tür. »Guten Tag, meine Herren. Kommen Sie herein. Den zweiten Ausweis muss ich nicht sehen. Ich vertraue Ihnen. Ein bisschen Vorsicht muss schon sein. Ich lebe schließlich alleine hier. Mein Mann ist schon lange tot. Kinder haben wir keine und mein kleiner Dackel ist vor wenigen Wochen ebenfalls gestorben. Noch weiß ich nicht, ob ich mir einen neuen Hund zulegen soll. In meinem Alter. Das macht viel Arbeit und kostet viel Kraft. Die habe ich nicht mehr. Sie mögen es nicht glauben, aber ich stehe schon kurz vor der Pensionsgrenze.«
Während ihres Monologs war Frau Raasch durch einen mit schmiedeeisernen Möbeln bestückten Flur vorangegangen und hatte an dessen Ende die Tür zum Wohnzimmer geöffnet. Schreiner hatte Köhler mit dem Ellenbogen angestoßen und mit Weltuntergangsmiene die Augen zum Himmel gedreht.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Frau Raasch und wies auf eine mit
Weitere Kostenlose Bücher