Das juengste Gericht
erhoffe Sie von ihm Hilfe bei der Lösung der von ihr als unbehaglich empfundenen Situation. Köhler ermunterte sie durch ein freundliches Nicken. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte Frau Raasch den Rock ihres Kleides etwas weiter über die Knie und sah wieder zu Schreiner hin. »Mir ist aufgefallen, dass Sunita immer sehr gepflegt angezogen war. Normalerweise registriere ich solche Dinge kaum. Bei ihr war es allerdings besonders auffällig. Sie trug jeden Tag etwas Neues. Die Kleidungsstücke sahen aus, als seien sie nicht billig gewesen.«
»Was fanden Sie daran bemerkenswert? Hatten Sie den Eindruck, dass die Ausstattung die finanziellen Verhältnisse der Adoptiveltern überschritt?«, fragte Köhler.
»Nein, die Eltern scheinen mir in geordneten Verhältnissen zu leben. Zumindest weiß ich nichts Gegenteiliges. Ich dachte nur, dass diese äußeren Eitelkeiten nicht zu Sunita passten. Es widersprach ihrem sonstigen Charakter und ihrem Verhalten.«
Schreiner legte die Stirn in Falten. »Haben Sie eine Erklärung für diese Ungereimtheit?«
Wiederum errötete Frau Raasch. »Sie dürfen nicht denken, dass ich der Sache eine unanständige Bedeutung beimesse. Es gibt da einen Jungen in unserer Schule. Der junge Mann ist etwas älter, als es Sunita war, und heißt Dubho oder so ähnlich. Er kommt wohl aus demselben Kulturkreis wie Sunita. Die beiden Kinder gingen häufiger in den Pausen auf dem Schulhof spazieren.«
»Können Sie uns sagen, wie dieser Dubho mit Nachnamen heißt und wo er wohnt?«, fragte Schreiner.
»Namgyal oder so ähnlich. Wo er wohnt, weiß ich nicht. Das können Sie in der Schule erfragen. Aber bitte, Herr Kommissar! Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich will damit nur andeuten, dass Sunita sich diesem Jungen eher anvertraut haben könnte als allen anderen Kindern ihres Umfelds. Obwohl, ich weiß nicht einmal, ob es etwas zum Anvertrauen gab.« Sie riss die Augen weiter auf. »Sie werden ja wohl zu diesem Jungen gehen und ihm ein paar Fragen stellen. Müssen Sie dort erwähnen, dass ich Ihnen von ihm erzählt habe?«
Schreiner und Köhler erhoben sich von ihren Plätzen. Köhler legte den Arm auf die Schulter von Frau Raasch, sah zu ihr herunter und schüttelte den Kopf. »Sie können ganz beruhigt sein. Vielen Dank für Ihre Auskünfte. Sie haben uns sehr geholfen.«
Als die Wohnungstür hinter den beiden Beamten ins Schloss fiel, zündete Schreiner sich sofort eine Zigarette an. »Eines ist mir eben klar geworden, Günter. Wenn Frau Raasch zurzeit den Prototyp einer Paukerin verkörpert, wundert mich das Ergebnis der Pisa-Studie nicht mehr.«
Köhler zuckte mit den Schultern. »Zu meiner Zeit waren die Lehrer nicht anders.«
Schreiner schaute auf seine Armbanduhr. »Ein Grund mehr, jetzt ein Bier trinken zu gehen. Offiziell ist längst Dienstschluss. Lass uns zum Bitburger in der Hochstraße laufen. Da ist es gemütlich und immer etwas los. Wir könnten dort bereden, wie wir weitermachen.«
»Stimmt! Außerdem ist dort gedämpftes Licht. Da siehst du nicht so schrecklich alt aus.«
12. Kapitel
»Die Mannschaftsaufstellungen«, dröhnte es aus dem Stadionlautsprecher. »Es spielen ... die Gäste aus Offenbach ...«
Die Namen der Spieler des Gastvereins Kickers Offenbach gingen in den Buh-Rufen und dem infernalischen Gejohle des überwiegenden Teils der Zuschauer in der ausverkauften Commerzbank Arena unter. Die wenigen tausend Schlachtenbummler aus der Frankfurter Nachbarstadt konnten sich gegen die akustische Übermacht des einheimischen Publikums nicht durchsetzen, schwenkten aber tapfer und trotzig ihre rot-weißen Fahnen. Für die Frankfurter Fans war es eine Selbstverständlichkeit, die ungeliebten Nachbarn nicht nur auf dem Rasen, sondern auch im Zuschauerbereich von der Lautstärke her nicht zur Entfaltung kommen zu lassen.
»Eintracht Frankfurt: Mit der Nummer eins, Markus ...«
Aus über fünfzigtausend Kehlen folgte der Schrei des Nachnamens des Torhüters: »Pröll.«
Der Übung folgend setzte die Ansage wieder ein. »Mit der Nummer zwei, Patrick ...«
»Ochs.«
Endlich pfiff der Schiedsrichter das Spiel an. Das unterschiedliche Hoffen und Bangen und damit der Spielverlauf fanden auf den Gesichtern der jeweiligen Anhänger und in ihren lauthals herausgebrüllten Kommentaren ein vollständiges Spiegelbild.
In der Kurve standen zwei nahezu gleichaltrige junge Männer nebeneinander. Sie hatten beide eine hellbraune Hautfarbe und kurz geschnittene schwarze Haare. Der
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