Das juengste Gericht
Goldvelours bespannte Couchgarnitur in Eiche rustikal.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder einen Cognac? Ach, nein, Sie sind ja im Dienst. Was für eine dumme Frage von mir. Also doch lieber einen Kaffee.«
Schreiner warf einen verzweifelten Blick auf die Butzenscheiben der schweren Schrankwand, die gegenüber der Couch die komplette Wand füllte und das Zimmer klein und niedrig erscheinen ließ. »Lassen Sie es nur gut sein. Wir haben eben etwas getrunken und Ihnen unseren Besuch mehr oder weniger aufgedrängt. Außerdem sind wir in Eile, Sie verstehen? Wir wollen Sie jetzt gar nicht förmlich vernehmen, sondern nur ein paar kurze Fragen stellen. Außerhalb des Protokolls. Trotzdem müssen Sie uns natürlich vollständige und richtige Antworten geben.«
Frau Raasch schaute Schreiner an, schüttelte den Kopf und wollte eben zu einer Erwiderung ansetzen. Köhler lächelte ihr zu und machte eine beruhigende Handbewegung. »Mir dürfen Sie gerne ein Gläschen Wasser anbieten, so Sie welches im Hause haben. Dann können wir ein wenig plaudern. Wir haben selbstverständlich überhaupt keinen Anlass zu der Annahme, dass Sie uns nicht alles erzählen wollen, was Sie über den Sachverhalt wissen.«
Dankbar nickte Frau Raasch ihm zu und verließ den Raum. Schreiner starrte Köhler fassungslos an. »Was ist denn in dich gefahren, Günter? Tickst Du nicht richtig? Die betuliche Dame ist dankbar, dass sie endlich zwei Dumme zum Zuhören gefunden hat. Wir stellen ein paar kurze Fragen, und dann nichts wie weg.«
»Sei doch ein bisschen mitmenschlich gestimmt und mache der liebenswerten Frau die Freude. Wie wir alle wissen, sind es Geduld und Beharrlichkeit, die uns meist zum Ziel führen.«
Frau Raasch betrat wieder das Zimmer und stellte vor Köhler ein geschliffenes Kristallglas mit sprudelndem Wasser ab. Sie setzte sich in einen Sessel, der im rechten Winkel zur Couch aufgestellt war, und sah Schreiner mit geweiteten Augen durch ihre Brille an. »Sie sind sicher, dass Sie nicht ebenfalls etwas trinken möchten?«
Schreiner schüttelte den Kopf. Frau Raasch wandte sich Köhler zu. »Das ist ja eine schlimme Geschichte, über die dauernd im Radio berichtet wird. In der Schule wurde ebenfalls viel dummes Zeug geredet. Keiner weiß etwas Genaues, aber jeder tut sich wichtig. Was ist denn genau passiert?«
Köhler nahm das Wasserglas, setzte es an die Lippen und trank einen tiefen Schluck. »Sunita ist vom achten Stockwerk der Terrasse eines Hochhauses auf der Zeil in die Tiefe gestürzt«, sagte er. »Wir haben Anhaltspunkte dafür, dass das Mädchen über das Geländer gehoben oder gestoßen wurde. Mit anderen Worten: Wir können nicht ausschließen, dass Sunita umgebracht worden ist.«
»Das ist ja schlimm. Wer könnte denn so etwas tun? Vielleicht war es nur ein Unfall und die andere Person ist aus Panik weggelaufen.«
Schreiner machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, das kann nicht sein, Frau Raasch. Die Spuren, die wir gesichert haben, sprechen eine andere Sprache. Kommen wir zum Anlass unseres Besuchs. Wir wollen Sie nicht allzu lange aufhalten. Sie sind, wie wir wissen, die Klassenlehrerin von Sunita. Haben Sie irgendwelche Erkenntnisse aus Ihrem täglichen Umgang mit dem Mädchen, aus denen sich Hinweise auf einen Täter oder für ein Motiv ergeben könnten? Gibt es nach Ihrer Kenntnis einen Menschen, der eine auffällig feindselige Haltung gegenüber Sunita einnahm oder eine überdurchschnittliche Abneigung spürbar werden ließ?«
Eine Weile fixierte Frau Raasch die beiden Beamten abwechselnd aus leeren Augen. Sie setzte die Brille ab und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Sunita war beliebt, wenn sie auch nicht fest zu einer der bestehenden Grüppchen oder Cliquen gehörte, in denen sich Kinder dieses Alters häufig zusammentun. Andererseits war sie keine Einzelgängerin. Ich will damit sagen, dass sie in jedem Kreis willkommen war, sobald sie ihn aufsuchte. Wie ich weiß, hat sie sich immer mal da und dort hinzugesellt, allerdings ohne sich festzulegen. Sie ging einmal in der Woche zum Leichtathletiktraining, nahm Ballettstunden und hatte sich als Wahlpflichtfach das Chorsingen ausgesucht.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, hatte Sunita nicht das, was man landläufig als beste Freundin bezeichnet?«, fragte Schreiner weiter.
»So könnte man es ausdrücken«, sagte Frau Raasch.
»Könnten Sie uns ihre ganzen Freizeitaktivitäten, die
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