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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
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Lisa-Marie.«
    Phillip Krawinckel legte das große Messer auf dem Tisch ab und griff zur Kamera. Mit professionellen Bewegungen richtete er immer wieder das Objektiv auf Lisa-Marie und hielt ihre Reaktionen fest. Es kostete ihn ersichtlich Mühe, sich mit Anweisungen zur Einnahme bestimmter Positionen zurückzuhalten. Mehrmals zischte ihm seine Frau zu, er solle doch ein einziges Mal die Perfektion zugunsten der Natürlichkeit und Spontaneität opfern. Als das Lied zu Ende war, löste sich Mike Kellermann vom Türrahmen. Er hielt auf dem Arm ein silbernes Tablett, auf dem Geschirr und eine dampfende Kaffeekanne abgestellt waren. Mit undurchdringlichem Lächeln sah er zu Ellen Krawinckel hin.
    »Darf ich den Herrschaften jetzt servieren? Den Glückwünschen für das gnädige Fräulein schließe ich mich natürlich an.«
    Lisa-Marie fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Nein, Mike, nein. Nicht so schnell. Sonst ist gleich alles vorbei. LisaMarie will erst noch die Kerzen ausblasen.«
    Phillip Krawinckel betrachtete mit Wohlgefallen seine frisch lackierten Fingernägel und berührte die Schulter Kellermanns auf der Epaulette seiner weißen Livree. »Warten Sie bitte um Gottes willen noch einen Augenblick. Sie ist gerade so glücklich. Ich freue mich so für sie.« Er wandte sich an Lisa-Marie. »Du, liebe Lisa-Marie, sage bitte nicht immer Mike zu Herrn Kellermann. Das schickt sich nicht. Er hat ein Anrecht darauf, höflich angesprochen zu werden.«
    Lisa-Marie grinste. »Ätsch, das mache ich aber doch. Der Mike ist mir nicht böse. Der Mike ist lieb zu Lisa-Marie.«
    Kellermann hielt den Kopf leicht schief und zeigte ein dünnes Lächeln, als er Phillip Krawinckels Blick erwiderte. »Lassen Sie nur. Das geht schon in Ordnung. Sie meint es ja nicht despektierlich. Sonst wäre das etwas ganz anderes.«
    Krawinckel schüttelte den Kopf. »Es gibt gewisse Grundregeln, die einzuhalten sind, ohne Ausnahme.«
    Es klingelte. Kellermann drehte ab. »Sie entschuldigen mich für einen Augenblick.«
    Lisa-Marie begann, die Kerzen auszupusten. Sie ging nach und nach um den Tisch herum, stützte sich mit den Ellbogen auf und blies in Richtung der Kerzen. Jedes Mal, wenn es ihr gelang, mehrere auf einmal auszulöschen, applaudierte sie sich selbst. Auch diese Szenen hielt Phillip Krawinckel in zahllosen Bildern fest.
    Als Lisa-Marie fertig war, kehrte Kellermann in Begleitung von Wolfgang Beuchert zurück, der auf dem Arm ein großes in Geschenkpapier eingeschlagenes Paket hielt. Phillip Krawinckels gute Laune war wie verflogen. »Wieso kommst du heute hierher?« Wolfgang Beucherts Gesicht drückte Verlegenheit aus. »Du hast doch gestern zu mir gesagt, dass du wegen unseres neuen Geschäftsabschlusses etwas zur Unterschrift durch mich vorbereiten lässt. Gleichzeitig hast du gemeint, dass ich ab heute kommen könnte. Dabei fiel mir später ein, Lisa-Marie müsse heute Geburtstag haben. Ihr feiert ja gerade, da komme ich doch richtig.« Phillip Krawinckel zeigte Resignation. »Das kann man auch anders sehen. Aber nun bist du schon einmal da. Trink einen Kaffee mit uns.«
    Beuchert überreichte Lisa-Marie das Paket. Sie riss es auf und zog eine Ziehharmonika heraus. Sofort hängte sie sich das Instrument um, bediente ersichtlich unerfahren die Tastatur und lachte bei jedem der falschen Töne begeistert auf. Nur Sekunden später reichte sie die Harmonika an Kellermann und ging zu Beuchert. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und setzte zu einem Küsschen an, zog vorher aber den Kopf wieder zurück. Ihre Miene war plötzlich undurchdringlich. »Danke, Onkel Wolfgang. Das habe ich mir schon immer gewünscht. Toll, wie du das wusstest.«
    Alle, bis auf Kellermann, der in der Türfüllung stehen blieb, setzten sich und tranken Kaffee. Phillip Krawinckel legte eigenhändig jedem ein Stück der Geburtstagstorte auf. Seine Frau kostete lustlos nur eine Gabel voll, ergriff die Kaffeetasse und nippte andauernd daran. »Wir müssten mit Lisa-Marie modische Kleidung einkaufen gehen. Was sie da trägt, ist seit Jahren überholt.«
    Beuchert fühlte sich nicht angesprochen, schaute unter sich und verschlang mit raschen Bissen seine Torte. Phillip Krawinckel sah zu Ellen auf und wiegte den Kopf. »Das ist zu anstrengend für sie. Wir lassen uns eine Kollektion kommen und vorführen. Dann hat sie auch mehr Spaß daran.«
    Lisa-Marie hatte ihren Kuchen zur Hälfte gegessen, als sie die Gabel auflegte und den Teller zur Tischmitte

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