Das juengste Gericht
ältere Jugendliche trug den schwarz-roten Schal mit dem Eintracht-Wappen. Er fieberte bei jeder Aktion der Spieler auf dem Rasen mit.
Der Jüngere hielt regungslos eine kleine Eintracht-Fahne in der Hand. Sein Kopf war gesenkt. Die Augen starrten zu Boden. Plötzlich zerrte ihn ein lang gezogener Tor-Schrei der Menschen um ihn herum aus den Gedanken. Geistesabwesend schaute er auf und sah, wie der ältere Junge neben ihm mit all den anderen Menschen die Arme hochriss.
Dem Lautsprecher gelang es, den Jubel der Massen noch zu übertönen. »In der dritten Spielminute Tor für die Frankfurter Eintracht. Torschütze ... Markus ...«
»Weissenberger«, brüllten die Fans.
»Neuer Spielstand, Frankfurt: Eins, Offenbach: ...«
»Null«, tönte die Masse mit dunkler Grabesstimme.
Der ältere Jugendliche stieß seinen jüngeren Nebenmann an.
»Was ist mit dir los? Du hast überhaupt nicht gejubelt, Dubho. Warum wolltest du vor ein paar Tagen unbedingt mit mir auf das Pokalspiel, wenn du jetzt keinen Bock mehr hast? Bedrückt dich etwas, Brüderchen?«
»Es ist nichts, tut mir leid. Ich war gerade in Gedanken.«
»Du musst mir nichts vormachen. Ich kenne dich lange genug, um zu wissen, dass dich irgendeine Geschichte quält. Ich tippe mal, es ist wegen Sunita.«
Dubho schaute, zuckte mit den Schultern und nickte.
Der Ältere beugte sich mit dem Mund zu Dubhos Ohr.
»Komm! Hier können wir nicht reden, weil man in dem Trubel sein eigenes Wort nicht versteht. Wir gehen über die Treppe in den Außenkreis, wo die Getränkebuden sind. Dort holen wir uns eine Cola.«
Dubho sah mit betretener Miene zu Boden. »Tut mir leid, Dorjey. Du hast dich so auf das Spiel gefreut. Jetzt versaue ich dir alles.«
Dorjey schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass man auf seinen älteren Bruder hören muss. Die Eintracht führt. Ich habe schon ein Tor gesehen. Und wir brauchen sicher nicht die gesamte Spielzeit, um auf den Punkt zu kommen. Nachher gehen wir wieder in unseren Block.«
Die beiden drängten sich unter dem lautstarken Unmut der umstehenden Zuschauer nach oben und gingen zu einem Getränkestand. Dorjey bestellte zwei Cola, drückte Dubho eine in die Hand und trank hastig einige Schlucke durch seinen Strohhalm.
»So! Jetzt schieß los.«
Die Augen von Dubho suchten die Baumwipfel ab, als könne ihn von dort eine Erscheinung vor der eingeforderten Offenbarungspflicht retten. »Ich habe Angst.«
Mit teilnahmslosem Gesicht betrachtete Dorjey seine ColaFlasche. »Wovor?«
»Neulich, bei der Meditation mit Sunita – da konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Ich musste sie dauernd anschauen, während sie die Augen geschlossen hielt. Sie sah sehr hübsch aus.«
»Deswegen muss man keine Angst haben.«
»Irgendwann berührte ich sanft ihre Hand. Sie zuckte zusammen und schaute mich vorwurfsvoll an. Dann stand sie auf und ging. Ohne Gruß. Sie war sauer.«
»Okay. Hast du dich entschuldigt?«
»Am Tag darauf. Sie behandelte mich völlig von oben herab.« Dorjey trank wieder einen Schluck. »War das euer letzter Kontakt vor ihrem Tod? Bedeutet das, dass du jetzt Angst hast, weil du meinst, etwas falsch gemacht zu haben, was dir nachhängen könnte? Fürchtest du, dass dieser Fehler dir eine schlechte Wiedergeburt beschert?«
Dubho schüttelte den Kopf. »Ich habe dir noch nicht alles erzählt. Weil sie nicht mit mir reden wollte, schrieb ich ihr ein Briefchen. Darin habe ich ihr gesagt, dass ich mit ihr gehen will. Sie hat mich abgewiesen. Wahrscheinlich, weil sie etwas Besseres hatte.«
»Das musst du mir erklären.«
Die Gesichtszüge von Dubho blieben undurchdringlich.
»Sonst gibt es nichts.«
Mit zusammengekniffenen Augen schaute Dorjey seinen Bruder an. »Du verheimlichst mir etwas.«
»Vielleicht sollte ich dir noch sagen, dass sie immer toll angezogen war und in dicken Autos an der Schule abgeholt wurde. Nicht nur von ihrem Vater. Manchmal auch von einem anderen Typ.«
»Und? Was ist daran Besonderes. Wenn unsere Eltern nicht kommen konnten, gab es auch immer Freunde, die geholfen haben. Weißt du noch, wie uns Onkel Vajira im Cadillac abgeholt hat? Der ganze Schulhof stand Kopf. Du sagst mir nicht die Wahrheit. Jedenfalls erzählst du mir nicht alles. Ich werde mit Mutter reden.«
Dubho erschrak. »Bitte nicht. Du weißt, wie Mutter sein kann. Tu mir das nicht an. Ich … ich war verletzt, weil sie nichts von mir wollte. Deshalb habe ich ihr noch ein zweites Briefchen geschrieben. Darin stand, sie
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