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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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praktisch.«
    Er bemerkte, wie sie ihm hingerissen zuhörte und beugte sich zu ihr über den Tisch.
    »Hast du schon mal gehört, dass Leute, die ein Bein verloren haben, das fehlende Teil spüren?«, fragte er. »Dass sie fühlen, wie ihre Geisterzehen zucken und ein Fußgelenk juckt, das gar nicht da ist?«
    »Nein. Stimmt das?«
    »Natürlich stimmt das. Also, ich hab einen Gauner getroffen, dessen eines Bein von einem Pferd zerschmettert worden ist. Die kaputten Teile sind unter dem Knie abgehackt worden, aber er hat geschworen, er würde immer noch den stechenden Schmerz in seinem Geisterfuß spüren, und er hatte oft Träume, in denen er gehen konnte.«
    »Woher weißt du, dass er wirklich den Teil des Beins spüren konnte, das gar nicht mehr da war? Ich habe so was noch nie gehört.«
    »Nur weil du was nicht weißt, heißt das doch nicht, dass es nicht stimmt.«
    »Ich hab nicht gesagt, dass ich dir nicht glauben würde.« Petra war es bei dem Gedanken unheimlich, dass jemand einen fehlenden Körperteil spüren konnte. Konnte ihrVater seine Phantomaugen spüren? Bereiteten sie ihm Schmerzen? Er hatte nie darüber gesprochen.
    »Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht.Tu einfach
so, als würdest du mir für ein Weilchen glauben. Wenn du aber meine Geschichte nicht hören willst, eine Romageschichte, die normalerweise niemand, der kein Rom ist, zu hören bekäme …«
    »Erzähl sie mir.«
    Neel lächelte. »Vor vielen hundert Jahren hat unser Volk in der Wüste gelebt. Es hat Pferde und Elefanten abgerichtet. Also beides sind Tiere, die du zähmen und reiten kannst. Aber sie denken vollkommen unterschiedlich. Wenn dich ein Pferd liebt, dann liebt es dich bedingungslos, auf Schlachtfeldern und in Fiebersümpfen. Aber ein Elefant muss wissen, warum du etwas willst. Er muss einsehen, dass das, was du machst, zumindest ein bisschen sinnvoll ist.
    Die Roma waren damals in drei Stämme aufgeteilt, nicht in vier wie heute. Die Ursari sind der Stamm, der Tiere am besten abrichten kann. Jedenfalls verkaufen sie immer noch Tiere an die Gadsche.«
    »Was sind Gadsche noch mal?«
    »Die, die nicht dazugehören. Die sesshaft sind. So wie du. Also, es gab einen vom Stamm der Ursari namens Danior, der besser mit Pferden und Elefanten umgehen konnte als die anderen. Er verstand alle Dinge, die Menschen und die Welt besser als die meisten Ursari. Es ist schwer, jemanden zu mögen, der immer besser ist als du, und der Ursariführer konnte Danior überhaupt nicht leiden. Bald fing er an, ihn regelrecht zu hassen. Und so kam es, dass Danior eines Morgens allein in der Wüste aufgewacht ist. Sein Stamm hatte ihn im Stich gelassen. Er hatte
noch sein Zelt, aber kein Wasser und nichts, womit er jagen konnte. Und das bedeutet in der Wüste den sicheren Tod.
    Auf der Suche nach Wasser schleppte er sich durch die Wüste. Das hältst du nicht lange durch. Bald legte er sich hin und wartete auf seinen Tod. Da hörte er plötzlich etwas. Es war das Trommeln vieler Hufe. Er dachte, dass sein Stamm vielleicht seinetwegen zurückkommen würde, und so rappelte er sich wieder auf.
    Doch es waren nicht die Ursari. Es war eine Gruppe von Gadsche, die auch noch ziemlich bedeutend aussahen. Sieben Krieger mit bösartigen Augen kamen vorneweg, und hinter ihnen stapfte ein Elefant, der den offenbar wichtigsten Mann von allen trug.
    Jetzt erkannte Danior die meisten der Pferde und den Elefanten, die er gezähmt und abgerichtet hatte. Und wer war der Gadsche auf dem Elefant? Er war niemand anderes als der Wüstenkönig, der eine mit Gold geschmückte Frau und elf schöne Kinder hatte.
    Danior hob die Hände und bat die Krieger um Hilfe. Aber die starrten nur geradeaus, als ob er gar nicht da wäre. Dann bat Danior die Pferde um Hilfe. Die Pferde jedoch liebten ihre Herren, wie Danior es ihnen beigebracht hatte. Also hörten die Pferde auf ihre Herren und beachteten ihn nicht.
    Dann kam der Elefant. In einem kleinen Haus, das auf seinem Rücken festgeschnallt war, schwankte der Wüstenkönig vor und zurück. Danior sah, dass ein Riemen lose war und herabbaumelte, und er griff danach.
    Der Wüstenkönig blickte zu ihm hinunter, zog sein
Schwert, schlug damit zu und hackte alle Finger von Daniors Händen ab.«
    Petra keuchte. »Und was ist dann passiert?«
    »Der Elefant, der eine Elefantin war, hatte Danior erkannt, und sie war nicht damit einverstanden, wie der Wüstenkönig ihn behandelte. Sie schrie auf, warf das Haus mit dem niederträchtigen

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