Das Kabinett der Wunder
blickte auf die Schale, und als Neel aufstand, fielen ihr plötzlich die leeren Taschen ein, die er dem Polizisten gezeigt hatte. Er war dabei, sich davonzumachen.
Ihre Hand schoss vor und packte Neel am Handgelenk. »Du kannst dir ruhig in die Hose machen«, sagte sie wütend, denn sie war sicher, dass er sie sitzen lassen wollte. Er würde durch den Hinterausgang verschwinden. Sie müsste dann die Rechnung bezahlen und allein durch diese belebte und stinkende Stadt wandern.
Erstaunt setzte sich Neel wieder auf seinen Stuhl und schüttelte ihre Hand ab. »Was ist denn los mit dir?«, flüsterte er scharf. »Immer schlägst du Krawall. Du machst die Leute nur auf uns aufmerksam, wenn du so rumhüpfst, als wärst du voller Flöhe. Und dann« - er fuchtelte mit dem Finger vor ihrer Nase herum - »wirst du immer geschnappt. Immer.«
Petra funkelte ihn böse an. Ihr war nicht nach einer Lektion in Sachen Diebstahl.
»Hör mal, es tut mir leid«, sagte Neel. »Ich lass dich zuerst die Kneipe verlassen. Es ist schwieriger, als Zweiter abzuhauen, denn dann lässt du’nen leeren Tisch zurück und die Leute gucken. Stimmt, das war nicht anständig von mir, dich sitzen zu lassen, weil ich mehr Erfahrung hab. Jetzt gehst du vor und ich komm dann nach.« Er zeigte in einer Art und Weise auf den Ausgang, die man vielleicht als höflich bezeichnen konnte.
Jetzt, wo sie wusste, dass er nicht vorgehabt hatte, sie reinzulegen, fühlte Petra sich etwas besser, doch sie war immer noch beunruhigt. »Und was ist mit den Leuten, die hier arbeiten? Haben die ihre Bezahlung nicht verdient?«
Er seufzte. »Wenn die sich nicht darum kümmern, was sie zu kriegen haben, verdienen sie es vielleicht auch nicht, es zu bekommen.«
Neels Worte ließen sie sofort wieder an ihren Vater und dessen gestohlene Augen denken. Nach Neels Logik war die Blindheit ihres Vaters keine grausame Quälerei. Sie war etwas, das er selbst verschuldet hatte.
Seit dem Tag, an dem ihr Vater in dem Karren nach Hause gebracht worden war, hatte sie kein einziges Mal geweint. Und sie wollte das auch nicht vor dem wendigen und wenig vertrauenswürdigen Dieb machen. Sie musste raus aus diesem Gasthaus. In diesem Augenblick fühlte sie sich wie ein Blatt Papier, das von schmutzigem Wasser durchtränkt war, und ein weiterer Tropfen könnte dazu führen, dass sie sich in Fetzen auflöste.
Petra griff nach ihrer Geldbörse und gab der tätowierten Frau ein Zeichen. »Ich bezahle. Geh du schon mal.«
Er blickte sie erstaunt an. Dann tauchte er zu ihrer Überraschung unter den Tisch und stöberte dort nach etwas herum. Gerade als die Frau zu ihnen kam, tauchte er wieder auf und hielt ihr eine schmuddelige Münze hin. »Wir teilen.« Er lächelte, als er ihr Gesicht sah. »Heb dein Geld immer in den Schuhen auf, Petra. Dann ist es fast unmöglich, es abzukassieren.«
Nachdem sie bezahlt hatten, durchquerte Petra schnell die stickigen Räume. Neel blieb ihr dicht auf den Fersen. Als die schwere Wirtshaustür hinter ihnen zuschlug, folgte er ihr weiter. Sie wusste nicht, welche Richtung sie einschlagen sollte, doch das war ihr egal.
»Was hat dich denn so verärgert?«, rief er hinter ihr her, während sie sich durch die Menschenmassen drängten. Es war Mittag, und die Straßen der Stadt barsten fast vor Krach und hin und her eilenden Menschen. »Ich hab doch bezahlt, oder?« Als Petra keine Antwort gab, sagte Neel enttäuscht: »Prima. Ich hab verstanden. Du hast da so ein paar hochtrabende Vorstellungen darüber, was sich gehört. Aber nur, weil du dir das leisten kannst. Ich, also ich hab eine Familie von Fiedlern und Puppenspielern, und nur meine Schwester kann richtige Arbeit kriegen, weil ihre Haut hell genug ist. Also nehme ich, was ich kriegen kann. Und wenn das ein Eintopf ist, dann ist das für mich in Ordnung. Ich bin froh, dass du dem von der Schmiere das gesagt und mir damit den Galgen erspart hast, aber ich muss mich nicht mit jemandem abgeben, der so hochnäsig ist.«
Petra blieb abrupt stehen. »Und warum läufst du mir dann nach?«
Neel breitete die Arme aus. »Es ist nur, weil ich zufällig denselben Weg hab wie du. Ist es vielleicht nicht erlaubt, meine Schwester zu treffen? Sie reißt mir die Ohren ab, wenn ich das nicht tue.«
Petra wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie ging. Daher fragte sie stattdessen: »Wo triffst du deine Schwester?«
»Wieso? Bei der Burg. Da arbeitet sie.«
Petra überlegte kurz.
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