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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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lautlos zu verständigen. Ja, ja, sagte sie zu sich, genau wie es die letzten tausend Male, bei denen du das versucht hast, funktioniert hat. Doch sie konzentrierte sich. Irgendetwas
kitzelte in ihrem Kopf. Hatte sie sich das eingebildet? Sie folgte der leicht summenden Empfindung und ließ sich ganz darauf ein. Es war wie das fast unhörbare Summen von Astrophils inneren Zahnrädern, ein Geräusch, das sie so oft gehört hatte, dass sie es nicht mehr wahrnahm. Doch das Summen jetzt in ihrem Kopf war etwas, das sich anfühlte, als wäre Astrophil selbst darin. Sicher würde sie nicht gehört, aber trotzdem dachte sie angestrengt: Versteck dich.Wenn er dich entdeckt und dich nimmt, kann er dich für mehr Geld verkaufen, als er sich vorzustellen vermag .
    Das Summen setzte aus. Astrophil ließ sich seine Überraschung nicht anmerken und schickte Petra seine ernsthaften Überlegungen: Du musst dir meinetwegen keine Gedanken machen. Behalte ihn im Auge. Ich habe mich versteckt, falls du das noch nicht gemerkt hast.
    Ein erstauntes, freudig erregtes Gefühl erfüllte Petra. Astro! Astro?
    Was?
    Du kannst mich hören! Ich kann dich hören! Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft!
    Ja, ja. Hast du. Aber wir können später feiern. Für den Moment flehe ich dich an, vernünftig zu sein und dich vor dem Straßendieb in Acht zu nehmen, mit dem du dich aus unerfindlichen Gründen befreunden willst.
    Neel beobachtete sie. Die Aufregung ließ ihr Gesicht leuchten. »Du bist eine ganz Launische«, sagte er. »In einem Moment blickst du finster und im nächsten strahlst du.« Er machte eine kleine Pause. »Und du bist schnell für ein Kitschin.«

    »Ein was?«
    »Ein Kitschin morte.«
    »Hä?«
    »Ein Mädchen. Ein Kitschin ist ein Mädchen.«
    »Oh. Also … ist das Wort aus deiner Sprache? Deine Stimme klingt anders. Natürlich spricht hier kein Mensch wie die Leute in Okno, aber du … bist noch mal anders«, schloss sie lahm.
    »Kitschin morte ist Gaunersprache. Ich habe meine eigene Sprache.«
    »Was ist Gaunersprache?«
    »Gaunersprache ist das, was die Gemeinschaft der Gauner spricht. Die Gemeinschaft ist wie eine … wie eine Zunft. Eine Gruppe von Tagedieben, die zusammenarbeiten.«
    »Du meinst Diebe.«
    »Diebe, klar. Und Gaukler, Kesselflicker, Schauspieler, Hausierer, Schläger, Kaninchenfänger, Falschspieler, Scheinbettler, Seifensieder, Kartenleger und all so was. Und ihre Kinder.«
    »Gehörst du zu der Gaunergruppe?«
    »Nein, ich hab meine eigenen Leute.«
    »Du bist ein Zigeuner.«
    »Das Wort Zigeuner … das passt nicht so ganz.«
    Sie wartete kurz. »Was ist daran unpassend?«
    Er rührte in seinem Eintopf und zeigte dann mit dem Löffel auf sie. »So nennen uns die Gadsche, die, die immer an einem Fleck leben.Wir nennen uns Roma und wir sprechen Romani. Das ist schon seltsam …« Er verstummte
und sah sie an. »Es ist seltsam, dass du mich erwischt hast, als ich deinen Geldbeutel abgegriffen hab. Roma sind Blitzdiebe. Und ich bin noch nie erwischt worden.« Er schwieg einen Moment, dann drückte er die Kuppen von Daumen und Zeigefinger aufeinander.
    Petra schrie leise auf, ließ den Löffel fallen und rieb sich den linken Arm, den sie in einiger Entfernung von Neel auf dem Tisch aufgestützt hatte.
    »Interessant.« Er hob erneut die Hand.
    Petra widerstand dem Drang, seine Hand wegzuschlagen. »Das ist nicht so interessant, wenn du diejenige bist, die gezwickt wird.«
    »Sehr interessant«, verkündete er und senkte die Hand wieder. »Du hast nicht erwartet, was zu spüren.«
    »Was hat du gemacht? Wie hast du das vor allem gemacht?«
    Neel hob die Hand erneut. Petras Löffel schwebte langsam über den Tisch und plumpste dann in ihren Eintopf. »Iss weiter.«
    Petra blickte ihn an. »Kannst du Dinge mit deinem Geist bewegen?«
    »Nein. Es ist mehr als …« Er beugte die Hand. »Als hätte ich eine Verlängerung. Irgendwie sind meine Finger sehr, sehr lang, doch du kannst nur ein bisschen davon sehen.«
    »Sind die dann nicht im Weg? Wenn du mit einem Löffel isst, greifst du ihn doch mit deinen echten Fingern. Hängen die unsichtbaren Teile dann nicht herum und sto ßen dir ins Gesicht?«
    Er lachte. »Das wär nicht so angenehm! Nein, die Geister
kommen und gehen. Wenn ich das Gefühl habe, etwas zu wollen, wie zum Beispiel ein schönes Band für meine Schwester, werden meine Finger einfach irgendwie länger. Und wenn ich sie nicht brauche, verschwinden die Geister wieder. Das ist sehr

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