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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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Petras Alter, in Lumpen gekleidet,
und hatte eingesunkene große Augen, die starr vor sich hin blickten. »Ich seh ihn«, sagte sie und zeigte dabei einen abgebrochenen Zahn. »Er hat die Hand an der Seide.«
    Allen in dem kleinen Menschenauflauf war klar, dass es mit dem Verstand des Mädchens nicht weit her war - wahrscheinlich gebrochen durch einen Wahrsager. Leute mit dem zweiten Gesicht wie Petras Mutter können ohne Hilfe von außen in die Zukunft sehen, aber auch nur in die Zukunft. Wahrsager dagegen können auch in die Vergangenheit oder Gegenwart sehen. Sie unterscheiden sich von jemandem mit dem zweiten Gesicht in anderer Weise: Ein Wahrsager kann niemals eine Vision allein aus sich heraus haben. Die Kraft muss immer durch eine andere Person geleitet werden und ein Kind ist das beste Medium für einen Wahrsager. Er bittet das Kind, auf eine blanke Oberfläche wie zum Beispiel einen Spiegel zu blicken und zu sagen, was es dort sieht. Je jünger das Medium, desto besser. Das Problem dabei ist, dass der Geist eines Mediums ziemlich zerbrechlich wird, solange es sich unter der Kontrolle eines Wahrsagers befindet. Und Wahrsagen ist keine exakte Wissenschaft, sondern etwas, das widersprüchliche Bilder und falsche Fährten zusammen mit einem Körnchen Wahrheit anbietet. Es gab viele Geschichten von Wahrsagern, die, mit den Ergebnissen unzufrieden, Kinder gezwungen hatten, so lange in den Spiegel zu schauen, bis deren Geist völlig zusammenbrach.
    »Ich frag mich, wer sie früher war?«, flüsterte Petra.
    »Eine Person, die benutzt und dann allein gelassen wurde«, sagte Astrophil mitleidig. »Ich habe gelesen, dass es Tausende
von Waisenkindern in Prag gibt. Sie war wahrscheinlich eine, die niemand vermisst hat.«
    »Auch wenn sie niemandem fehlt, ich wette, ihr fehlt die Person, die sie einmal war«, sagte Petra und legte das Stück Hefezopf vor die schmutzigen Füße des Mädchens.
    Und in diesem Moment spürte sie unsichtbare Finger in ihr Hemd tauchen und ihr den Geldbeutel entreißen.

Der Langfingerdieb
    PETRA SCHNELLTE herum und sah noch etwas Dunkles um die nahe Ecke flitzen. »Festhalten!«, sagte sie zu Astrophil und raste die Straße entlang. Sie war schnell und beweglich. Sie hätte selbst Freude daran gehabt, mit welcher Leichtigkeit sie Hindernisse übersprang und um Ecken schwenkte, wenn sie nicht Angst gehabt hätte, den Jungen, der vor ihr herrannte, aus den Augen zu verlieren. Er hatte ihr so ziemlich alles Geld gestohlen, das sie besaß.
    Der Dieb schlängelte und wand sich durch die schmalen Gassen und hoffte, sie loszuwerden. Doch zu seinem Pech rannte er die Straßen entlang, die Petra noch vom Morgen her kannte, und sie erinnerte sich sehr gut, wie diesesViertel angelegt war. Plötzlich schwenkte er nach rechts ab. Zufrieden lächelte Petra verhalten. Er war gerade in eine Sackgasse verschwunden. Der einzige Ausweg wäre, ganz dreist in einen Laden oder in ein Haus zu schlüpfen. Und um genau das zu verhindern, erhöhte Petra ihre Geschwindigkeit.
    Als sie um die Ecke bog, sah er sie wie ein gehetztes Tier an. Sie packte seinen Arm. »Gib es zurück!«

    »Ich hab nichts von dir!«, schrie er. »Lass mich los!« Er trat nach ihr, aber sie hielt ihn mit sicherem Griff fest.
    »Was ist hier los?« Der dicke Bauch eines Polizisten bog in die Gasse ein, direkt gefolgt von seinem Besitzer. Er rollte auf die beiden zu. »Hab ich hier Schreie gehört? Hat dieser kleine Zigeuner dir was gestohlen?« Er blickte voller Abscheu auf Petras Gefangenen.
    Der sich windende Junge erstarrte und sah Petra völlig verängstigt an. Jetzt sah sie sein Gesicht zum ersten Mal deutlich. Es was dunkel und voller Pockennarben. Die Narbe, die über seine linke Wange verlief, stammte wahrscheinlich von einem Messer. Unter den Augenbrauen, die aussahen, als seien sie in zwei Strichen von einer dicken, in Tinte getauchten Gänsefeder gezogen worden, starrten seine gelbbraunen Augen hervor.
    Was machen die hier in Prag wohl mit Dieben?, fragte sie sich. In Okno wurden Männer und Frauen für eine gewisse Zeit ins Gefängnis gesperrt, doch Kinder, die gestohlen hatten, überließ man gewöhnlich der Gnade ihrer Eltern und manchmal mussten sie für den Geschädigten arbeiten. Doch aus dem Gesichtsausdruck des Jungen konnte Petra schließen, dass das Gesetz jugendliche Diebe hier nicht einfach nur in die Obstgärten schickte, um Obst für die Krämer aufzulesen. Daher sagte sie: Oh nein, Herr. Nein, wir haben nur ein wenig

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