Das Kabinett der Wunder
»Deine Schwester arbeitet in der Burg?«
»Hab ich doch gesagt, oder?«
Sie waren mitten auf der Straße stehen geblieben. Die Menschen drängten um sie herum und rempelten sie an. »Weitergehen!«, schrie eine Frau mit hektisch roten Backen schrill.
Neel zog Petra an den Straßenrand, wo sie sich gegen eine Wand lehnten, die nach Holzfäule roch. »Ist Neel dein richtiger Name?«, fragte Petra den Jungen.
»Mhm, nein.« Er schob seine Hände in die Hosentaschen und vermied es, sie anzusehen.
Es war, wie Petra gedacht hatte. Man konnte sich nicht einmal darauf verlassen, dass er wenigstens bei so einer ganz gewöhnlichen Sache ehrlich war.
Aber er sprach weiter: »Eigentlich heiße ich Indraneel. Das bedeutet ›blau‹. Aber ich bin nicht blau und bei ›Indraneel‹ brichst du dir ja die Zunge ab. Also nur ganz einfach ›Neel‹.«
Da fragte Petra: »Stellst du mich deiner Schwester vor?«
Über die Karlsbrücke
BALD ERREICHTEN sie die Moldau. Dort gingen sie über die Karlsbrücke, ein großartiges Bauwerk, das gesäumt war von Statuen böhmischer Helden. Die Brücke war brandneu. Prinz Rodolfo hatte sie in Auftrag gegeben, um seinen Abschluss an der Akademie zu feiern. Er hatte die Brücke nach seinem Vater benannt. Einige mögen vielleicht sagen, das wäre unnötig gewesen, schließlich hatte er ja schon den Namen »Argosuniversität« in »Karlsuniversität« geändert, als er dreizehn war oder so. Aber man kann schließlich einem Kaiser nie genug schmeicheln.
Neel hatte keine Ahnung, wen die Statuen darstellen sollten. Er gestand, dass er, wie viele Roma, nicht lesen konnte und wenig über böhmische Geschichte wusste. »Wen interessiert denn schon eine Gadschegeschichte? Mein Volk hat bessere Geschichten.«
Petra musste zugeben, dass das womöglich stimmte. Doch sie erzählte ihm gerne etwas über die Statuen. Es passierte selten, dass sie jemandem etwas beibringen konnte.
»Wer war das verträumt guckende Mädel hier?« Er zeigte
auf die Statue einer Frau, die ein Eimerchen mit Wasser in die Höhe hielt.
»Das ist die Dame Portia.Vor achthundert Jahren pflegten die Leute jeden mit magischen Kräften auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Sie hat das Tribunal der Löwenpranke überzeugt, dass so etwas verboten werden muss.«
»Was ist das Tribunal der Löwenpranke?«
»Das ist Böhmens höchster Gerichtshof. Er besteht aus sieben Richtern, die vom Prinzen ausgesucht werden. Sie haben fast die letzte Entscheidung in jeder Rechtssache des Landes.«
»Und wer hat dann die letzte Entscheidung?«
Meine Güte, hat der die ganze Zeit unter einem Felsen gelebt? Astrophils Worte summten in ihrem Kopf herum.
Mach dich nicht über ihn lustig , befahl sie der Spinne. »Der Prinz«, sagte sie zu Neel. »Die Löwenpranke empfiehlt dem Prinzen Gesetze, und er entscheidet, ob sie ihm gefallen oder nicht. Nachdem das Gesetz erlassen war, gab die Dame Portia zu, dass sie selbst ein magisches Talent hatte. Zuerst dachten die Menschen, sie hätte sich nur deshalb für das Gesetz eingesetzt, um sich selbst zu schützen, doch es stellte sich heraus, dass ihre Gabe darin bestand, jeder Hitze zu widerstehen. Sie konnte glühende Kohlen wie Zuckerstückchen lutschen. Niemandem wäre es gelungen, sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, und so war es offenkundig, dass sie nur aus lauter Gutherzigkeit für dieses Gesetz gekämpft hatte.«
Neel zuckte mit den Schultern. »Sie hätten sie ja stattdessen ertränken können.«
Als Nächster kam Florian, der Herzog von Karlsbad. »Er hat die Akademie gegründet«, sagte Petra. »Dann hat er massenhaft Geld hinterlassen, nachdem er gestorben war, um die Burg der Akademie auszubauen. Sie haben dann fließendes Wasser, Türkische Bäder, ein Theater, drei Heißluftballons und eine Menge andere Sachen angeschafft, die sie geheim halten.«
Sie sahen Kaiser Vaclav den Gerissenen, der viel kleiner wirkte, als Petra ihn sich immer vorgestellt hatte. »Er ist daran Schuld, dass du nur auf die Akademie gehen kannst, wenn du zum Adel gehörst«, erklärte Petra. »Sein Gerichtshof hat das Gesetz vor rund zweihundert Jahren erlassen, als er noch der Prinz von Böhmen war. Das hat zum Bauernaufstand geführt, der im Grunde genommen ein Selbstmord der Landbevölkerung war.Vaclav hat die Truppen der Rebellen niedergemacht. Als sie sich ergaben, hat man das nur angenommen, weil sie der wichtigsten Bedingung der Übereinkunft zustimmten: Die Rebellen haben jeden genannt, von dem sie
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