Das Kabinett der Wunder
wie: »Selbst wenn ich schon im Grab läge, würde ich wieder rauskommen und dir sagen: nein, niemals, nicht in hundert Jahren!« Oder etwas in der Art. Damara hämmerte mit der Faust auf den mit einem Tuch bedeckten Boden. Ihre Stimmen wurden immer lauter. Schließlich schrie Sadi: »Dosta!«
Damara atmete tief aus.Als sie dann etwas sagte, war ihre Stimme ruhig, aber entschlossen.
Sadi sagte: »Petra, meine Mutter sagt, wenn du deinen Hals riskieren willst, dann ist das deine Sache. Sie achtet deine Entscheidung, wenn nicht gar deine Selbstaufgabe. Aber ihr Sohn wird kein Teil deines Plans sein. Sie sagt, du bist willkommen, zum Mittagsmahl zu bleiben und jederzeit wiederzukommen, wenn du willst. Doch du bist nicht willkommen, wenn du Neel in deine Pläne einbeziehst.« Sie blickte ihren Bruder an. »Und ich für meinen Teil bin derselben Meinung.«
»Und ich für meinen …« Neel unterbrach sich und
zuckte mit den Schultern. »Also gegen euch beide kann ich mich wohl nicht durchsetzen, oder?«
Sadi schien erleichtert, aber auch ein bisschen misstrauisch zu sein. »Dann ist ja gut. Lasst uns essen.«
Beim Essen stand Petra im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die meisten Lowari waren auf eine freundliche Weise neugierig. Ethelenda, die Frau, die bei ihrer Ankunft das Fleisch gebraten hatte, gab Petra eine dicke Scheibe.
Eines der kleinen Mädchen zeigte auf Petra und sagte mit gerümpfter Nase etwas zu Neel. Er lachte. »Sie möchte wissen, warum deine Kleider so hässlich sind.«
»Sind sie das denn?«
»Na ja, Braun und Braun sind nicht gerade die lebhaftesten Farben. Das lässt mich an Tannenzapfen denken. Angebrannten Haferbrei. Lappen, mit denen man einen verschlammten Wagen abgeschrubbt hat. Und Pferdeäpfel.«
»Ich mag Tannenzapfen«, sagte Petra abwehrend.
Ethelenda bot sich an, ihr die Ohren zu durchstechen. »Äh, nein danke«, sagte Petra.
»Du solltest dich eigentlich mehr wie ein Mädchen anziehen«, sagte Sadi. Wäre ein solcher Vorschlag von Lucie gekommen, hätte Petra mit den Zähnen geknirscht, doch Sadi hörte sie zu. »Ich kann verstehen, warum du in Prag in Hosen herumlaufen willst. Kein Mensch macht sich weiter über einen Jungen auf der Straße Gedanken, der allein ist. Aber es gibt keinen Grund, die Leute auf der Burg im Glauben zu lassen, dass du ein Junge bist. Ich würde auch davon abraten. Die Arbeit, für die der Haushofmeister immer
jemanden sucht, geht nur an Jungen, und die Arbeit möchtest du bestimmt nicht haben.«
»Und was wäre das?«
»Die Abtritte auszuputzen.«
»Oh, ich verstehe.Vielleicht sind Röcke doch gar nicht so schlecht.« Petra seufzte. »So viel zu meiner kurzlebigen Verkleidung.«
»Sie war sowieso nicht so überzeugend«, sagte Neel.
Nach dem Essen stellte ein junger Mann rund hundert Schritte vom Lagerfeuer entfernt ein Holzbrett auf. Das Ziel war ein aufgemalter roter Kreis von der Größe einer Melone mit einem walnussgroßen schwarzen Punkt in der Mitte. Damara zog ein Messer aus ihrem großen Stiefel, warf als Erste. Die Messerspitze schlug dort ins Holz ein, wo der schwarze Punkt an den roten Kreis grenzte. Alle klatschten. Dann wechselten sich die jungen Leute ab. Viele von ihnen verfehlten das Brett ganz (dann stöhnten alle auf) oder trafen nur das nackte Holz. Zwei von ihnen trafen sehr beachtlich in den roten Kreis. Ein Mädchen beschwerte sich, dass sie auf diese Entfernung nicht einmal den schwarzen Punkt sähe.
Dann stand Emil auf und sagte, er wolle ihnen einmal zeigen, wie dieses Spiel richtig gespielt würde. Mit der Eleganz einer Schlange, die ihren Kopf zum Biss erhoben hat, beugte sich Emil zurück, und dann warf er. Die schimmernde Klinge wirbelte von seinen Fingern und traf genau ins Schwarze. Irgendjemand pfiff anerkennend. Eine der Frauen schüttelte ihre Hand, als hätte sie etwas Heißes angefasst. Sadi verdrehte die Augen.
Dann sagte Emil etwas zu Petra, das sie nicht verstand. Seine Stimme klang freundlich, doch er grinste dabei.
»Willst du werfen?«, fragte Neel.
Petra hatte Messer bisher nur benutzt, um Gemüse zu hacken, Fleisch zu schneiden, aus kleinen Holzstückchen Pferde zu schnitzen und, höchst selten, sich die Haare damit zu schneiden. So schätzte sie ihre Chancen nicht besonders hoch ein, ein Ziel auf hundert Schritt Entfernung zu treffen. Doch Emils Verhalten ärgerte sie. Wenn sie sich weigerte, würde er sich freuen. Wenn sie danebenwarf, würde er sich auch freuen. Wenn sie es aber
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