Das Kabinett der Wunder
Leute schienen auf etwas zu warten. Petra konnte nur die Rückseite des Gebäudes sehen, doch sie wusste, was es war, noch bevor Neel rief: »Schnell, es ist fast so weit, dass die Stunde schlägt!« Sie rannten in die Menge hinein und drängelten sich durch, um besser sehen zu können.
Petra war starr vor Staunen. Die Uhr war sogar noch schöner, als sie sich vorgestellt hatte. Wie ihr Vater gesagt hatte, zeigte die Vorderseite der Uhr ein Rapsfeld, das sich im Wind wiegte. Große römische Ziffern umgaben das Ziffernblatt. Tierkreiszeichen in Gold blitzten in einem ständigen Kreislauf auf. Sie befanden sich auf einer flachen blauen Scheibe aus Lapislazuli, die sich unter der Uhr drehte. Kleine grüne Kupferdrachen spähten von einem spitzen Dach über dem Zifferblatt herunter. Ihre zusammengerollten grünen Schwänze waren goldgestreift.
Dann erreichten der silberne Minutenzeiger und der goldene Stundenzeiger gemeinsam die Ziffer fünf. Von
beiden Seiten der Uhr sprangen Wasserstrahlen in Form tropfender Lilien empor. Kleine Kinder plantschten unten im Wasser. Melodische Glockenschläge erklangen. Über dem Zifferblatt klappten zwei blaue Türen auf. Kleine Figuren erschienen in dem einen Tor. Sie drehten sich dem Publikum zu und verschwanden dann langsam durch das andere Tor. Es war eine Parade von Gut und Böse. Erst kam der Teufel, dann ein Engel, dann ein Geizhals, der seinen Geldsack umklammerte, dann eine Frau, die Rapssamen verstreute, dann der Tod als Skelett. Zuletzt kam das Leben, ein junges Mädchen, das aussah wie Petra. Sie glitt hinter die zweite Tür und die blauen Tore schlossen sich. Die Flügel der Kupferdrachen flatterten wie Blätter und die Statue eines roten Hahns auf dem Dach des Turms krähte.
Petra war sprachlos. Die Uhr war unglaublich schön und musste sehr schwierig zu konstruieren gewesen sein.
Als sie an der Tür des Gasthofs angekommen waren, sagte Neel: »Weißt du, es könnte sein, dass ich dir in der Burg über den Weg laufe.«
»Könnte sein?«
»Ja-a. Ich hab darüber nachgedacht, was Sadi gesagt hat. Und dann hab ich beschlossen, dass es an der Zeit ist, den Taschendiebstahl an den Nagel zu hängen und meine Hände an richtiger Arbeit zu versuchen. Ich hab gedacht, ich könnte mal schauen, ob Tabor mir Arbeit im Stall verschaffen kann.« Er klang ganz ernst, doch seine gelben Augen zwinkerten.
»Aber natürlich würdest du nicht im Stall bleiben «, sagte Petra schlau. »Ich bin sicher, sobald du eine Arbeit in der
Burg hast, könntest du wahrscheinlich ziemlich unbeobachtet Teile von ihr erforschen.«
»Yo. Und vielleicht krieg ich eine Idee, wo der Prinz seine Herrlichkeiten bunkert.«
»Sadi und deine Mutter werden das aber nicht so schätzen.«
»Och, kann schon sein.Aber sie müssen das ja nicht wissen, stimmt’s?«
»Ich glaube, das würde sie nur unnötig aufregen«, schaltete sich Astrophil ein.
»Völlig unnötig.« Neel schüttelte den Kopf und seufzte. »Manchmal wissen Erwachsene einfach nicht, was gut für sie ist.« Er ging ein Stück die Straße entlang, blickte sich aber noch einmal um und zwinkerte ihr zu. »Bis dann, Petali.«
Genueser
ICH HOFFE, du weißt , sagte Astrophil schweigend, dass du den Beginn des Schulunterrichts in Okno versäumst, wenn du eine Arbeit in der Burg annimmst.
Und du kannst sehen, wie traurig ich darüber bin , erwiderte Petra. Sie marschierte durch die Schankstube, setzte sich Pavel und Lucie gegenüber an den Tisch und verkündete, Tante Aneska wollte, dass sie einen ganzen Monat bei ihr bliebe. »Ich bringe meine Sachen morgen zu ihr. Sie begleitet mich dann zurück nach Okno.«
»Also, wenn deine Tante das wirklich will …«, sagte Lucie. »Wir wären sowieso keine gute Gesellschaft für dich. Wir sind so beschäftigt damit, unsere Waren zu verkaufen.« Und Lucie verfiel in eine lange Klage, auf die Petra nicht weiter einging. Schnell aß sie ihr Abendessen und flitzte dann die Treppe nach oben in ihr Zimmer.
Sie hatte sich fast schmerzhaft danach gesehnt, etwas auszuprobieren, sobald sie alleine war. Hastig leerte sie ihre Taschen und legte sich dann eine Kupferkrone in die Hand. Höchste Anspannung befiel sie. Konnte sie wie ihr Vater Metall nur durch den Geist bewegen?
Die Krone lag bewegungslos in ihrer Hand.
»Schwebe, du fauler Knochen«, befahl sie.
Die Krone rührte sich nicht.
Nachdem sie ein paar Augenblicke lang die störrische Münze angestarrt hatte, verstaute Petra sie seufzend wieder in ihrem
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