Das Kabul-Komplott - Bannel, C: Kabul-Komplott
Minister löscht jeden Abend die Daten des jeweiligen Tages. Er ist vorsichtig wie eine Schlange.«
Osama verbarg seine Enttäuschung. Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand.
»Dank meines Informanten wusste ich ohne den Schatten eines Zweifels, dass Sie das Ziel eines Attentatsversuchs werden sollten«, fuhr der Mullah fort. »Der Minister spricht viel über Sie, es grenzt schon fast an Besessenheit. Aus diesem Grund habe ich eine Schutzzone eingerichtet. Mein Kommando hielt sich ständig in der Nähe des Kommissariats bereit. Sie haben Sie beschattet, ohne dass Sie es bemerkten. Außerdem habe ich vor Ihrem Haus Wachposten abgestellt.«
»Die Soldaten, die letzte Nacht mein Haus bewacht haben? Ich dachte, das hätte ich dem Innenminister zu verdanken.«
»Nein, mir. Der Chef ihrer Einheit schuldet mir einen großen Gefallen. Dabei ist er ein Oberst der ANA, ein ungläubiger Hazara, der niemals betet und viele Talibanbrüder umgebracht hat.«
»Ich verstehe das nicht. Weshalb haben Sie Kontakt zu einem Mann wie ihm?«
»Ich bin nun einmal … flexibel. Dieser Oberst erledigt seine Arbeit sehr ordentlich. Wir respektieren uns. Ich hoffe, er wird mir auch in Zukunft behilflich sein. Wir könnten richtige Soldaten an der Spitze der Armee gebrauchen, kompetente Leute, keine Imame – und seien sie durch den Zwang, sich zu verstecken, noch so abgehärtet –, denn die verstehen nichts von militärischen Dingen.«
Osama seufzte. Diese Unterhaltung erschien ihm mit einem Mal ein wenig irreal.
»Das einzig Gute an der ganzen Sache ist, dass dieses verhinderte Attentat mir einige Tage der Ruhe gewährt.«
»Verlassen Sie sich nicht darauf. Der Minister redet schon davon, wieder weiterzumachen. Man heckt bereits etwas Neues gegen Sie aus. Was genau, weiß ich noch nicht.«
»Ich werde den Justizminister bitten, mir einen Geleitschutz zur Verfügung zu stellen. Das ist sicher unauffälliger als IhreMänner, wenn es darauf ankommt. Könnten Sie eine entsprechende Anweisung geben?«
»Wie es Ihnen beliebt.«
Der Mullah hustete und übergab sich dann plötzlich in eine große Wanne am Fuß seines Bettes. Osama nahm sie wortlos und ging hinaus, um den Inhalt in die Toilette zu kippen.
»Das ist der Vorteil Afghanistans«, sagte der Mullah, als Osama wieder hereinkam. »Wer weiß, was morgen geschieht? Männer, die doch offensichtlich Karzai-Anhänger sind, dienen sich Männern wie mir an, um ihre Haut für den Fall zu retten, dass wir wieder an die Macht kommen.«
»Wenn Sie an die Macht kommen, fallen wir zurück in die Steinzeit.«
»Ich stehe für eine Strömung, die sich gegen ein Musikverbot ausspricht, gegen Gewalt an Frauen, gegen juristische Schnellverfahren und andere … Exzesse unserer Bewegung. Sie vergessen, dass wir in diesem Land die Ordnung wiederhergestellt und den Mohnanbau abgeschafft haben.«
»… und al-Qaida unterstützen. Und Zehntausende von Unschuldigen massakrierten. Und eine strenge, absurde Scharia eingeführt haben. Wollen Sie, dass wir gemeinsam die Liste Ihrer Irrtümer und Verbrechen aufstellen? Gehen Sie nicht allzu rasch über das hinweg, wofür die Taliban verantwortlich sind.«
»Nicht alle, Bruder Osama. Lediglich die maßlos religiösen Mitglieder, die sich von grausamen Anführern haben mitreißen lassen. Anfangs herrschte tatsächlich ein Gleichgewicht unter den Taliban, es gab die Harten um Mullah Omar und die Gemäßigten, deren Anführer ich war. Die unvorhersehbare Machtergreifung der Gewalttätigsten aus der Schule Deobandis war es, die zu den Auswüchsen führte, die Sie benennen. Die Regierung der Taliban, die ich mir erträume, hat keinerlei Gemeinsamkeiten mit derjenigen, die ihr vorausging. Es wird keinen Platz mehr geben für ungebildete Menschen wie MullahOmar. Und noch weniger für die fanatisierten und grausamen Araber der al-Qaida. Ich träume von einer neuen afghanischen Bewegung – national, liberal und islamisch. Einer neuen Ordnung, in der der Glaube dazu dient, den Menschen zu bilden, in der die Tradition respektiert wird, ohne dass man dem Fortschritt abschwören muss, und in der die menschliche Würde geschützt wird.«
»Ich bin nicht sicher, ob ein derartiges Programm mit der Scharia vereinbar wäre, die Sie propagieren.«
»Die Scharia, aber welche Scharia denn? Es gibt so viele Interpretationen unseres heiligen Buches! Für mich existiert die Scharia nicht als absolute Richtschnur, Bruder Osama. Ich bin kein Verfechter der traditionellen Ansicht,
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