Das Kabul-Komplott - Bannel, C: Kabul-Komplott
vermutlich sein düsterer Charakter rührte. In seiner Jugend hatte er sich während einer Reisenach Tunesien unsterblich in eine junge Frau verliebt, die dann bei einem Autounfall umgekommen war. Seinen Angehörigen zufolge sprach er mit seinen Kollegen niemals über sein Privatleben; nur bei dieser allzu früh verstorbenen jungen Frau schien er einmal Gefühle gezeigt zu haben. In Zürich bewohnte er ein luxuriös eingerichtetes kleines Haus an der Goldküste, im vornehmsten Viertel der Stadt. Er fuhr ausschließlich Mercedes, zuletzt einen AMG der C-Klasse. Dieses Auto sprach Bände über sein Leben als reicher, mächtiger Mann, der ein diskretes, unauffälliges Leben führte. Die Firma hatte sein Haus buchstäblich auf den Kopf gestellt, ohne auch nur die geringste kompromittierende Kleinigkeit zu finden: keine Drogen, keine Zigaretten, keine Pornomagazine. Eine makellose Existenz, ohne Ecken und Kanten. Das Einzige, was man ihm vorwerfen konnte, war, dass er sich regelmäßig mit Escort-Damen versorgte, und zwar bei einem in der Metropole ansässigen Unternehmen namens Romance. Jeden Monat, zwischen dem 25. und dem 30., bestellte er bei Romance eine Begleitung. Sie kam gegen achtzehn Uhr bei ihm an, durfte nie bei ihm übernachten. Seit neun Jahren empfing er immer dasselbe Mädchen, eine Braunhaarige namens Jacqueline. Nick betrachtete das Foto, das dem Dossier beilag: Jacqueline war eine atemberaubend schöne Frau, dunkelhaarig, mit gezupften Augenbrauen und kleinen kreisrunden Brillengläsern, die sie seriös wirken ließen. Jacqueline hatte den Leuten von der Firma die Beschreibung eines Mannes geliefert, der sich sehr wenig aus Sex machte. Während der neun Jahre, genau dreihundert Treffen hatten zwischen ihr und Léonard stattgefunden, hatte sich das Szenario niemals verändert, nicht ein einziges Detail in der klassischen Abfolge des Abends. Sobald seine Angelegenheit erledigt war, gab er dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn und ein Trinkgeld von hundert Franken zusätzlich zu dem offiziellen Preis, dann schickte er sie fort.
Abgesehen von Jacqueline war keine weitere ernsthafte Beziehung in Léonards Leben bekannt. Manchmal ging er miteinem Kollegen in eine Bar, er hatte aber keine Freunde, weder in dem Fitnessclub, in dem er zweimal pro Woche auf dem Laufband trainierte, noch wenn er zum Angeln fuhr, dreimal pro Jahr, immer zur selben Zeit: dritte Märzwoche, erste Septemberwoche, zweite Dezemberwoche. Er hatte einen Waffenschein für eine SIG-Sauer-Pistole. In seinem Haus war die Waffe nicht gefunden worden.
Nick machte eine Pause, um sich etwas zu essen zu holen. Seit Werners Tod hatte er keinen Appetit mehr. Er nahm ein Stück Ziegenkäse aus dem Kühlschrank, eine Scheibe Schinken, einen Vanillejoghurt, dann wandte er sich wieder seiner Lektüre zu, den Teller vor sich.
Er verbrachte den Nachmittag damit, den Teil zu lesen, der die Karriere des Gesuchten behandelte. So unscheinbar der Mann auch war, so sehr überzeugte er durch seine Talente und sein Selbstbewusstsein, er war ein Vollprofi von internationalem Zuschnitt. All seine ehemaligen Kollegen, Mitarbeiter und Mitgesellschafter hoben sein ausgezeichnetes Gedächtnis und seine außergewöhnliche Analysefähigkeit hervor. Ein Organisator, der sich auf die kniffligsten technischen Details einließ und zugleich einen Überblick behielt, über den nur erfahrene Manager verfügen. Zwei ehemalige Vorstandsmitglieder waren sich darin einig, dass Willard Consulting ihm viel verdankte, dass ohne ihn das Unternehmen niemals seine heutige Größe erreicht hätte.
Nick kritzelte seine Notizen direkt in das Dossier. Er las alle Beurteilungen, die darin aufgeführt waren, eine nach der anderen. Sie stimmten erstaunlicherweise in vielem überein: ein aufs Detail versessener Profi, der sich sehr gut in Situationen einfühlen konnte, seine finanziellen Transaktionen wie eine Schlacht plante, stets zwei bis drei Schritte voraus war. Nick blätterte noch einmal im Dossier, um nachzusehen, ob der Mann Schach spielte – was er anscheinend nicht tat. Das überraschte Nick.
Er kam zum letzten Abschnitt. Er enthielt nur ein einziges interessantes Dokument: den Polizeibericht über den Schusswechsel in dem besetzten Gebäude in Zürich. Warum versteckte sich ein überaus reicher Mann, der mit dem Milieu überhaupt nichts zu tun hatte, an einem derart heruntergekommenen Ort? Und außerdem, die entscheidende Frage: Weshalb war er in Zürich geblieben, anstatt aus
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