Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
wieder an den Fernseher anzuschließen, zeige auch die Kassette in den Raum, die Herr Letterau kostenlos hat mitliefern lassen und die junge Frau sagt zu mir: Ich weiß nicht, vielleicht können wir das auch einfach selber machen. Dann schaut sie fragend in Richtung Couch, wo der alte Mann sitzt, und der schaut mich an, und ich schaue ihm direkt in die Augen, in seinen müden, wässrigen Blick, wie ein Aquarium, denke ich, ohne Fische. Das ist auch eigentlich kein Problem, sage ich, nicht so schwer, und sie sagt, mir geht da immer schon vorher die Geduld aus. Der alte Löwe starrt mich weiter an, ich glaube, er wollte schon den vollen Seviceumfang abgreifen. Kostet ja nichts, höre ich mich sagen und dann greife ich auch schon in den staubigen, dunklen Zwischenraum hinter der Wohnzimmerschrankwand, auf der der Fernseher steht und suche, blind mit meiner Hand durch Spinnweben und Staubmäuse tastend, nach den Anschlusskabeln und einer Mehrfachsteckdose.
Ich weiß nicht, ob es an diesem blinden Tasten gelegen hat, dass ich mich plötzlich an eine Szene aus unserer Schulzeit erinnerte, an einen Faschingsball in der Aula, zu dem alle Schüler verkleidet gekommen waren und wo es eine große, den ganzen Abend andauernde Schlacht gegeben hatte zwischen Cowboys und Indianern. Andere Kostüme hatte es an diesem Abend kaum gegeben.
Ich selbst war als Ninjaturtle gekommen, mit grüngeschminktem Gesicht und einem umständlichen Schildkrötenkostüm, in dem ich fast nicht ohne fremde Hilfe aufs Klo gehen konnte und sie, das fiel mir jetzt wieder ein, hatte sich als ein eher umständliches Konzept verkleidet – die Wiedervereinigung vielleicht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dass wir uns zwischen dem Schwarzpulverrauch lange unterhalten haben, das fällt mir auch wieder ein und dann höre ich, wie sie zu dem alten Löwen sagt, wie froh sie ist, dass das Kind jetzt schläft und dass heute Nachmittag beim Spazierengehen durch den Ort etwas Komisches passiert sei. Ich finde die Kabel hinter der Wand, als sie sagt, dass sie mit dem Kinderwagen am Supermarkt vorbeigefahren ist und dass dort gerade Ware angeliefert wurde aus einem LKW in großen Kisten und dass in dem Moment, als sie den Kinderwagen da vorbeigeschoben hat, einem der Arbeiter eine Kiste von oben aus dem LKW heruntergefallen und laut auf dem Bürgersteig aufgeschlagen ist. Alle sind erschrocken und das Kind auch, sagt sie, es hatte im Wagen geschlafen, und dann ist es hochgeschreckt und hat sich plötzlich aufgerichtet mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund, hat den Kopf hin und her gedreht und ist dabei aber ganz still geblieben.
Ich warte noch, den Fernseher einzuschalten, weil ich ja nicht weiß, ob vielleicht die Lautstärke hochgedreht ist. Auch mit meiner Faschingsgeschichte wollte ich mich erst mal zurückhalten, ich war mir jetzt auch gar nicht mehr so sicher, ob das auch wirklich diese junge Frau gewesen ist, die weitererzählt, dass das Kind gar nicht mehr aufgehört hat so zu schauen und dass sie dann auch schnell Angst bekommen hat, weil es nicht anfangen wollte zu schreien und eben auch nicht aufhören, so zu schauen. Er hat einfach weiter seinen Kopf hin und her gedreht, erzählt sie dem Alten auf der Couch, der davon überhaupt nicht beeindruckt ist, und ich nicke ernst in ihre Richtung, was sie aber nicht sieht, mit offenem Mund, sagt sie, und mit diesen weit aufgerissenen Augen leer um sich gestarrt, so als hätte die Kiste ihn zwar aus dem Schlaf gerissen, aber nicht ganz aufgeweckt, als wäre er in einem Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachsein gefangen gewesen. Ich habe ihn vorsichtig am Arm angefasst, aber es ist nichts passiert und dann habe ich den Kinderwagen weitergeschoben, weil die Leute auf der Straße uns schon ganz komisch angeschaut haben. Als wir dann im Park waren, sagt sie, habe ich ihn aus dem Wagen genommen und auf den Arm, aber er hat immer noch nicht aufgehört so zu starren und wollte auch den Mund nicht zumachen. Erst, als ich so verzweifelt war, dass ich angefangen habe zu weinen, habe ich gespürt, wie er sich plötzlich entspannt hat. Ich weiß nicht, woran es gelegen hat. Jedenfalls konnte ich ihn zurück in den Kinderwagen legen, und als er dann später wieder aufgewacht ist, hat er geschrien und wollte gefüttert werden.
Ich erhebe mich aus meiner knienden Haltung vor der Wohnzimmerschrankwand und setze mich in einen der Sessel, um ihr besser zuhören zu können, und dann erst bemerke ich, dass
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