Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Wochenende und manchmal am Abend nach der Arbeit, habe ich von da ab alleine unternommen. Ich ging häufig dieselben Wege. Es gab nicht besonders viel Auswahl, weil ich versuchte, das Militärgebiet zu meiden. Der Weg zum Strand war der Weg zur Arbeit, die Hauptstraße ging ich entlang, wenn ich im Supermarkt einkaufen musste, in den Wohngebieten bot sich das immerselbe Bild von vollgeschneiten Gärten, Autos, Garagen, Vordächern, vom gelben Schimmer in den Fenstern, von Fernsehern, Menschen, die im Warmen blieben, die auf ihr stilles Verständnis beim Zusammenleben vertrauen konnten und die auf einstudierte und reflexhafte Weise ihre häusliche Choreografie ausführten.
Hinter dem Rathaus, in dem sicherlich ebenfalls über künstlichem Licht gesessen und gearbeitet wurde, was sich nur nicht niederschlug in sichtbare Entschlüsse, befindet sich ein kleiner Park mit einem zugefrorenen Teich darin, in den ich häufig ging, so lange, bis an einem Nachmittag ein junges Paar auf einer der Bänke vor der weiß verschneiten Fläche des Teiches saß.
Ich war langsam an der Rückseite der Bank vorüber gegangen, auf dem Fußweg durch die Anlage, und ich konnte sehen, wie der Junge seiner neben ihm sitzenden Freundin auf eine sehr unappetitliche Art am Ohrläppchen nagte und schleckte, während seine linke Hand ihr abwechselnd in den Nacken kniff, oder mechanisch, wie abwesend, den Hinterkopf auf und ab fuhr in einer Streichelbewegung, die der Freundin sicherlich in den Haarwurzeln weh getan haben musste.
Das Mädchen zuckte manchmal unter kleinen Schauern zusammen, die wahrscheinlich von einem Ekel herkamen oder einem kurzen harmlosen Schmerz, und der Junge fühlte sich dadurch zu noch mehr kleinen Quälereien der Zärtlichkeit animiert. Als ich genau auf ihrer Höhe war, wurde das Mädchen von dem Jungen zu sich herangezogen und auf den Mund geküsst. Von ihm konnte ich da nur den Hinterkopf sehen, seine Schultern über der Lehne der Parkbank. Von dem Mädchen aber sah ich das halbe Gesicht und die geöffneten Augen, die mir nachschauten, wie aus einem alten Gemälde.
Ich drehte mich weg, wollte etwas anderes sehen, schaute den Fußweg hinunter und dann hoch, zwischen die Zweige der Bäume, in den grauen Himmel. Den schiefergrauen Himmel, dachte ich, den marmorierten, also vielleicht eher marmorgrauen Himmel, den kiesgrauen, den basalt- und granitgrauen Himmel, kalksandsteinfarben vielleicht, nur auf keinen Fall weiß. Der sich ständig überall aufhäufende Schnee, der aus diesem grauen Himmel herausgefallen kam, war annähernd weiß, der Himmel selbst niemals. Und überhaupt, soviel hatte ich ja doch gelernt aus meiner Arbeit mit den Geräten, erscheint das Weiße eh nur dann, wenn alle Farben in voller Intensität abgefeuert werden.
Ich ging raus aus dem Rathauspark, ohne mich nochmal nach dem Paar auf der Bank umzuschauen, spürte aber den ganzen Weg bis zum Haus meiner Eltern, den Blick der geöffneten Augen des Mädchens in meinem Rücken, auf eine ähnliche Art, wie ich beim Laufen durch die weite Ebene, auf dem Weg von der Stadt – und wie lange das her gewesen ist, wusste ich schon damals nicht mehr zu sagen – meinen eigenen Blick von oben, vom Waldrand, im Rücken gespürt hatte, als ich durch die Schneeverwehungen gelaufen war im Glauben, ich könnte mich vielleicht auflösen in der weißen Landschaft.
Wenn ich doch zum Meer ging in meiner Freizeit, war es mir selten möglich, den kleinen Hang zwischen der Hauptstraße und der Promenade ohne jede Erwartung hochzusteigen. Oder in Erwartung dessen, was ich wirklich dort finden würde: Den kalten Strand und die starre See, wie sie sich jeden Tag gezeigt hatten, seit ich im Ort angekommen war.
Etwas in mir dachte doch immer: Der Strand, der Hafen, das ist doch der Aufbruchsort ins weit Entfernte. Irgendwo hinter dem grauen Vorhang, hinter dem trüb verwaschenen Horizont, hinter den vielen tausend Kilometern Wasser, befindet sich doch wieder ein Strand, wieder eine Promenade, Häuser, Hauptstraßen und dazwischen ziehen die Schiffe, tauchen die Wale und Rochen und Kraken und Muränen, aber alles im Hafen, die Bewohner, ihre Boote und sogar das Meer selbst, verweigerten sich, still und ohne Teilnahme, gegen meine Vorstellung.
Es war nichts als eine massive Unbeweglichkeit, an der sich der Träumende problemlos den Schädel aufschlagen konnte.
Entgegen der seit langer Zeit in mir vorherrschenden Gleichgültigkeit gegenüber den Eindrücken im Ort, aus einem
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