Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
abgetrennt. Nirgendwo ein Durchgang nach vorn auf die Straße.
In manchen Häusern brennt Licht, ich sehe Menschen, die ihr Frühstück zubereiten, sehe jemanden vor dem Fernseher sitzen, der wahrscheinlich meine Aufnahmen ansieht. In den Gärten selbst herrscht glatte, gleichmäßige Ruhe. Die Oberflächen sind unberührt, zeichnen an manchen Stellen noch weich die Konturen der Dinge nach, die hier begraben liegen. Es ist ein langer Weg durch den tiefen Schnee und an den Zäunen der Gärten entlang bis zum letzten Haus.
Eine Gruppe in lässiger Haltung auf Talkshowmöbeln sitzender Männer, alle im Anzug mit dick gebundenen Krawattenknoten, hört einer Moderatorin mit einiger Überheblichkeit dabei zu, wie sie eine umständliche Frage formuliert. Die Männer haben einen Arm über die Rückenlehne gelegt oder beide über dem Bauch verschränkt. Am Ende gibt die Moderatorin ihrer Frage einen knistrigen Kommentar bei, der dazu führt, dass alle Männer plötzlich ihre Posen und Körperhaltungen auflösen, sich aufrecht hinsetzen und einander aus den Augenwinkeln ansehen. Auf dem Gesicht der Moderatorin erscheint ein dezentes Lächeln. Die Frage ist in die Zukunft gerichtet. Einer der Befragten sagt nach langem Zögern:
Nun, ich weiß einfach aus Erfahrung, dass man nichts über lange Zeit fest in der Hand halten kann, ohne es umzubringen.
Ich habe einige Mühe, mich dort, wo ich schließlich wieder auf die Straße trete, runter vom Feld und in den Ort, zu orientieren, glaube nicht, jemals auf diesem Weg unterwegs gewesen zu sein. Vor mir wird ein Auto vorsichtig zurückgesetzt, aus der Einfahrt auf die vereisten Spurrillen der Fahrbahn. Die roten und weißen Rückleuchten heben sich noch deutlich ab gegen das helle Blau des Morgens. Die Vorderreifen des Fahrzeugs drehen im Vorwärtsfahren kurz durch, finden dann aber doch noch genügend Halt.
Ich gehe in die Richtung, in der ich das Meer vermute, die Hauptstraße und die Promenade, von wo aus ich mich wieder zurechtfinden könnte. Ich gehe die Straße entlang und sehe eine Person, die mit einem Schraubenzieher an ihrem Briefkasten herumstochert. Offensichtlich ist die Klappe zugefroren. Dann kann da doch auch keine Post drin sein, denke ich. Das will ich aber zu der stochernden Person nicht sagen, einen guten Morgen wollte ich wünschen, aber ich bringe nur ein halbhohes Winken zustande, das von der Person nicht wahrgenommen wird.
Als ich weitergehe, sehe ich Richard, wie aus seiner eigenen Geschichte, neben den Stufen vor einem Haus liegen. Beim Näherkommen ist es dann aber nur ein Rasenmäher oder ein anderes, zwecklos gewordenes Gartengerät unter einer dunklen Plane.
Was zur Hölle ist das denn? Fragt ein junger Mann, als er einen Ast vom Boden aufhebt, der mit einem milchigen Schleim überzogen ist. Ein etwas lieblos animierter Riesenkiefer schließt sich über seinem Oberkörper und zerrt ihn hinab in einen unterirdischen Bau.
Ich höre das Knirschen meiner Stiefel im Schnee und wieder einen Hund kurz und aufgeregt bellen. Der Schnee fällt jetzt dichter vom Himmel, und zum ersten Mal höre ich das Geräusch der Flocken, wenn sie aufkommen auf den Dingen um mich herum. Auf den Autos und Gartenzäunen und Straßenschildern, aber vor allem auf dem Ärmel meines Mantels, den ich mir nah vor die Augen halte. Es ist immer derselbe helle Ton. Wie von der letzten Taste am Ende einer Klaviatur.
Auf einem großen Segelschiff, dem das Störflimmern den Hauptmast immer wieder oberhalb der Mitte abknickt, allerdings ohne den Späher aus seinem Korb zu werfen, rottet sich die Besatzung, den Skorbut und die fehlenden Zähne mit schwarzer Farbe ins Gesicht gemalt, zur Meuterei zusammen. Sie deuten mit ihren Händen auf die Unterkünfte der Offiziere und des Kapitäns und über die Reling auf eine graue See.
Sie befinden sich auf ungewissem Kurs und fürchten, bald am Ende ihrer Kräfte, der Ozeane und der Welt angelangt zu sein.
Links an dieser Straße, oder an einer anderen Straße – in meiner Erinnerung fehlt ein Stück, und es kann gut sein, dass mir beim Gehen kurzzeitig das Bewusstsein abhanden gekommen ist – erscheint hinter einer langgezogenen Kurve, vorn mit seinem Namen beschriftet, wie es sich gehört, das Lagerhaus von Willy Helbig, die Garage und der Garten.
Ich drehe mich einmal um mich selbst und schaue in den Himmel und in die fallenden Flocken und versuche anhand der Helligkeit zu beurteilen, wie spät es geworden ist.
Ich orientiere mich an
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