Das kalte Schwert
Abgesehen von denen, die tatsächlich dort gewesen
waren, wussten nur Jhiral und eine winzige Zahl vertrauenswürdiger höfischer Ratgeber und Ritter von den Ereignissen. Gegenwärtig waren zwei volle Legionen imperialer Soldaten an den Grenzen zum Sumpfland zwischen Pranderghast und Beksanara stationiert, angeblich als Bollwerk gegen Räuber aus den Territorien der Liga im Norden und Westen. Der Kommandant der Garnison in Khartaghnal war eingeweiht worden, auf was sie wirklich achten sollten, aber darüber hinaus …
Natürlich ließen sich Gerüchte kaum unterdrücken. Faileh Rakan mochte in dem Scharmützel bei Beksanara gefallen sein, aber eine Anzahl seiner Männer nicht. Die dortige Bevölkerung war dezimiert, jedoch nicht ausgelöscht. Und unter den Überlebenden würden einige, obwohl bezahlt, auf Geheimhaltung eingeschworen und sogar mit grässlichen Strafen bedroht – selbst Veteranen vom Ewigen Thron –, trinken und Garn spinnen und sich erinnern, dunkle Andeutungen machen und Fetzen der Wahrheit von sich geben.
»Die Dwendas sind zurückgetrieben worden«, sagte Archeth vorsichtig.
»In der Tat. Aber die Legenden sagen, dass der Wechselbalg der Illwrack zurückkehren wird, wenn die Not seines Adoptivvolks am größten ist; genauer gesagt, wenn es in der Schlacht aus dem Herzen seines alten Verlangens zurückgeworfen wurde und sich erneut in Auflösung befindet. Das ist ein mehr oder minder direktes Zitat aus den ursprünglichen naomischen Legenden. Erkennst du die logische Konsequenz?«
Jhiral nickte. »Ja. Obwohl mir etwas weniger klar ist, was wir deiner Ansicht nach dagegen unternehmen sollen. Vielleicht ein Präventivschlag gegen diese sich sporadisch manifestierende Insel?«
»Das ist eindeutig unmöglich.« Der Tonfall des Steuermanns
war fast affektiert. »Ich bin damit beauftragt, pragmatische Lösungen für deine Probleme anzubieten.«
»Bislang nicht.« Archeth bemerkte, dass etwas von der Ungeduld ihres Imperators auch auf sie übergriff. »Wenn die Geisterinsel unzugänglich ist, dann …«
»Du hast mich die Geschichte nicht zu Ende erzählen lassen, Tochter des Flaradnam.«
»Na ja, jetzt hindert sie dich nicht daran. Können wir bitte weitermachen?«
»Die Kiriath«, sagte Anasharal sanft, »hatten den Zaubern des Klans Illwrack nichts entgegenzusetzen, oder zumindest nichts, zu dessen Anwendung sie sich durchringen konnten. Stattdessen haben sie auf Sicherheit gesetzt. Eine Stadt wurde errichtet, die über den Wellen südöstlich der Geisterinsel steht. Eine Wache wurde eingesetzt.«
»Eine Stadt im Meer?«
Archeths Stimme klang auf einmal merkwürdig angespannt. Jhiral warf ihr einen leicht überraschten Blick zu.
»Das ist korrekt, Tochter des Flaradnam. In Auftrag gegeben und errichtet vom Klan Halkanirinakral, besetzt, zumindest ursprünglich, von dessen Nachkommen. Die Stadt erhielt den Namen An-Kirilnar – das heißt für dich, Majestät, Stadt des Phantoms – und war dazu angelegt, das Auf- und Wegtauchen der Geisterinsel aus den grauen Orten zu überwachen. Seit Kurzem hat es jedoch den Anschein, als sei sie dauerhaft in die Welt zurückgekehrt …«
»Ist sie immer noch da?«
»Ja, sie ist immer noch da, Tochter des Flaradnam. Gegenwärtig steht sie im Ozean jenseits der hironischen Inseln, wie schon seit Wochen.«
»Dann müssen wir dorthin!«
»Archeth …«
»Ja, ich würde sagen, das ist eine angemessene Schlussfolgerung, die zu ziehen ist.«
»Archeth …«
»Kannst du … dich verständigen mit …«
»Archeth!« Die Stimme des Imperators knallte wie eine Peitsche. Er stand von der Bank auf und schritt zum Balkon. Sein Tonfall wurde weicher und triefte vor honigsüßer Ironie. »Wärest du so gut, mit mir ins Haus zu gehen?«
»Mylord.« Sie eilte hinter ihm her. »Mylord, das ist eine Gelegenheit …«
»Dies ist eine Gelegenheit, sich verdammt noch eins wieder zu beruhigen, Mylady kir-Archeth.« Jhiral beugte sich näher zu ihr herüber. In ihrem Zustand der Verwirrung konnte sie nicht erkennen, ob es eine Drohung oder das Betteln um Vertraulichkeit war, ob Imperator oder der Junge, den sie hatte aufwachsen sehen. Die Worte kamen gedehnt. »Jetzt komm mit, wenn du so gut sein willst.«
Also kam sie mit.
Außer Hörweite – obwohl sie nicht davon überzeugt war, dass das etwas zu bedeuten hatte, wenn es um die Steuermänner ging. Angfal sprach außerhalb ihres Arbeitszimmers, wo er an den Wänden hing wie ein Eisen gewordener
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