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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Tagesschein gestattete noch, das Gesamtbild
    der Burg zu erkennen, die mächtig, aber halb verschwom-
    men aus dem Abendschatten aufragte.
    Über der Mauerbrüstung war kein Mensch zu sehen,
    keiner auf der oberen Fläche des Wartturms oder auf der
    Kreisterrasse des ersten Stockwerks. Nicht das feinste Rauch-
    wölkchen wirbelte um den stolzen, doch vom Rost der Jahr-
    hunderte zerfressenen Wetterhahn.
    »Na, Förster«, fragte der Doktor Patak, »gebt Ihr nun zu,
    daß es unmöglich ist, diesen Graben zu überschreiten, die
    Zugbrücke herabzulassen und das Tor zu öffnen?«
    Nic Deck schwieg, er sagte sich ja auch selbst, daß er ge-
    zwungen sein würde, vorläufig vor den Mauern der Burg
    haltzumachen, denn bei der herrschenden Finsternis war
    gar nicht daran zu denken, in die Tiefe des Grabens hinun-
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    terzugleiten, die steile Mauerböschung zu erklimmen und
    hinter die Umfassungsmauer einzudringen. Nein, es schien
    weit ratsamer, den nächsten Morgen abzuwarten, um bei
    vollem Licht ans Werk zu gehen.
    Das beschlossen denn auch die beiden Männer, zum gro-
    ßen Leidwesen des Försters, aber zur großen Befriedigung
    des ängstlichen Doktors.
    6
    Die Silbersichel des zunehmenden Mondes war sehr bald
    der untergegangenen Sonne gefolgt. Aus Westen heranzie-
    hende Wolken verlöschten allmählich den letzten Dämmer-
    schein am Himmel. Von der Erde aus stieg der Schatten im-
    mer weiter in die Höhe. Die Berge rings umher hüllten sich
    in den Mantel der Finsternis und die Formen der Burg ver-
    schwanden unter dem Florschleier der Nacht.
    Wenn diese Nacht auch sehr finster zu werden drohte,
    so wies doch nichts darauf hin, daß sie durch Witterungs-
    unbill, durch Gewitter, Sturm oder Regen gestört werden
    sollte. Für Nic Deck und seinen Begleiter, die ja unter freiem
    Himmel übernachten mußten, war das ein glücklicher Um-
    stand.
    Auf der öden Hochfläche des Orgall fand sich keine
    zusammenhängende Baumgruppe mehr; nur da und dort
    kroch so niedriges Buschwerk über die Erde hin, daß es ge-
    gen die nächtliche Kühle keinerlei Schutz bieten konnte.
    Felsblöcke gab es allerdings so viele man sich nur wünschen
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    konnte; hier zur Hälfte in der Erde vergraben, dort in so
    gefährlichem Gleichgewicht aufgerichtet, daß ein tüchtiger
    Windstoß hätte reichen müssen, sie in den Tannenwald dar-
    unter zu stürzen.
    Die einzige, auf diesem steinigen Boden üppig wu-
    chernde Pflanze war eine buschige Distel, der »Russendorn«
    genannt, deren Samenkörner, wie Elisée Reclus erzählt, von
    dem rauhen Fell moskowitischer Pferde hierher gebracht
    worden waren – »ein Andenken, das die Russen bei einem
    früheren Feldzug den Transsilvaniern hinterließen.«
    Jetzt ging es also darum, eine geeignete Stelle auszuwäh-
    len, auf der man den Tag erwarten und sich einigermaßen
    gegen die in dieser Höhe voraussichtlich starke Abnahme
    der Temperatur schützen konnte.
    »Wer die Wahl hat, hat die Qual; so geht’s auch uns – al-
    lerdings im schlechten Sinn!« brummte der Doktor Patak.
    »So beklagt Euch doch darüber!« antwortete Nic Deck
    sehr kurz.
    »Natürlich, ich beklage mich ja auch! Das ist doch der
    beste Ort, um sich einen guten Schnupfen oder gar ei-
    nen tüchtigen Rheumatismus zu holen, von dem ich mich
    schwerlich wieder zu befreien vermöchte.«
    Ein offenes Geständnis der Wissensarmut aus dem Mund
    des alten Heilgehilfen der Quarantäne! Oh, wie schmerzlich
    vermißte er jetzt sein hübsches Häuschen in Werst, mit dem
    wohlverwahrten Schlafzimmer, dem Bett mit einem Berg
    von Kissen und dem Vorhang davor!
    Unter den auf der Hochfläche des Orgall verstreuten
    — 102 —
    Felstrümmern galt es nun einen Block auszusuchen, der
    durch seine Lage am besten als Schirm gegen den eben
    auffrischenden Südwind dienen konnte. Dessen unterzog
    sich auch Nic Deck, und bald gesellte sich der Doktor zu
    ihm hinter einem Felsstück, das oben flach wie ein Tisch
    erschien.
    Dieser Felsen bildete eine jener von Scabiosen und Saxi-
    fragen umwucherten Steinbänke, denen man in den wala-
    chischen Provinzen an Straßenkreuzungen so häufig begeg-
    net. So wie der Wanderer darauf ausruhen kann, findet er
    hier auch Gelegenheit, seinen Durst mit dem Wasser zu lö-
    schen, das eine darauf stehende Kanne enthält und das von
    den menschenfreundlichen Landleuten alltäglich erneuert
    wird. Als Baron Rudolph von Gortz noch auf dem Schloß
    wohnte, trug auch diese Steinbank ein Gefäß,

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