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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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grünliche Wangen mit
    gesprenkeltem Teint und Haare, die dem Moos gleichen, das
    der Sage nach auf den Schädeln von Gehenkten wuchert.
    Nic Deck ist verblüfft über das, was er sieht, wie über das,
    was er hört. Der Doktor Patak, der sich schon im höchsten
    Stadium des Entsetzens befindet, hat starrgespannte Mus-
    keln, sich aufsträubendes Haar und erweiterte Pupillen –
    sein ganzer Körper ist steif wie in tetanischem Krampf. Er
    »atmet Schrecken«, wie der Dichter der ›Contemplations‹
    sagt.Eine Minute – höchstens eine Minute – währte die er-
    schreckende Erscheinung, dann schwächte sich das Licht
    allmählich ab, das Geheul verstummte, und das Plateau des
    Orgall lag wieder in Schweigen und Dunkelheit eingehüllt.
    Weder der eine noch der andere machte einen weiteren
    Versuch zu schlafen. Sie erwarteten, der Doktor durch das
    Entsetzen völlig vernichtet, der Förster vor der Steinbank
    stehend und aufmerksam lauschend, das Grauen des nächs-
    ten Tages.
    Woran mochte wohl Nic Deck gegenüber diesen in sei-

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    nen Augen offenbar übernatürlichen Dingen denken? War
    auch die letzte Erfahrung nicht imstande, seinen Entschluß
    zu erschüttern? Würde er sich darauf versteifen, dem ge-
    fährlichen Abenteuer noch weiter nachzugehen? Er hatte
    allerdings versichert, daß er in die Burg eindringen und den
    Wartturm durchsuchen werde. War es denn aber nicht ge-
    nug, bis an deren unübersteigbare Mauer gelangt zu sein,
    sich dem Zorn der Geister und dem Sturm der Elemente
    ausgesetzt zu haben? Würde man ihm einen Vorwurf dar-
    über machen, daß er sein Versprechen nicht eingelöst habe,
    wenn er ins Dorf zurückkehrte, ohne die Torheit so weit ge-
    trieben zu haben, daß er sich in das Teufelsschloß wagte?
    Urplötzlich stürzte sich der Doktor auf ihn, packt ihn
    mit der Hand, sucht ihn fortzuzerren und ruft mit dumpfer
    Stimme: »Kommt! Kommt, weg von hier!«
    »Nein!« antwortete Nic Deck.
    Jetzt hält er vielmehr den Doktor zurück, der nach einer
    letzten Anstrengung zusammensinkt.
    Die Nacht ging schließlich zuende, der Gemütszustand
    der beiden Männer hatte diese aber allen Urteils darüber
    beraubt, wieviel Zeit bis zum Tagesanbruch noch verstrich.
    Die dem Doktor übersinnlich, dem Förster nur unerklärlich
    erscheinenden Erfahrungen der Nacht ließen beiden deren
    weitere Stunden ohne zurückbleibenden Eindruck auf sie
    verrinnen.
    Jetzt färbte sich der Kamm des Paring mit einem schwach
    rosenroten Saum; ein Lichtschimmer flog über den öst-
    lichen Horizont an der anderen Seite des Tals der beiden Sil.
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    Bald zuckten auch die ersten Strahlen nach dem von Wol-
    kenstreifen übersäten Zenith empor.
    Nic Deck wandte sich dem Schloß zu. Er sah dessen For-
    men sich nach und nach abzeichnen, den Wartturm aus den
    Nebelwolken der Höhe, die jetzt schon am Vulcan selbst
    niederstiegen, deutlicher hervortreten; er sah die Kapelle,
    die Galerien, die Mauer zwischen den Bastionen aus dem
    nächtlichen Dunst auftauchen, dann die Eckbastion selbst
    und die Buche, deren Blätter im Morgenwind rauschten,
    sich vom Hintergrund abheben.
    Die Burg bot genau dasselbe Aussehen wie am Vor-
    abend.
    Die Glocke erschien ebenso unbewegt wie der alte ver-
    rostete Wetterhahn. Den Schornsteinen des Wartturms ent-
    stieg nicht die feinste Rauchsäule, und seine Fenster waren
    hinter ihren Gittern fest verschlossen.
    Über der Plattform zogen mit hellem Geschrei einige
    Vögel ihre luftigen Kreise.
    Nic Deck richtete den Blick zum Haupteingang des
    Schlosses. Die gegen die Maueröffnung aufgezogene Wall-
    grabenbrücke versperrte das Ausgangstor, dessen Steinpfei-
    ler das Wappen der Barone von Gortz trugen.
    War nun der Förster nach wie zuvor entschlossen, die-
    ses abenteuerliche Wagnis bis zu Ende zu führen? Ja; auch
    die nächtlichen Erscheinungen hatten ihn darin nicht wan-
    kend machen können. – Gesagt – getan! so lautete, wie wir
    wissen, der Wahlspruch des jungen Mannes. Weder die ge-
    heimnisvolle Stimme, die ihn persönlich in der Gaststube
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    des ›Königs Mathias‹ jene Warnung zugerufen hatte, noch
    die allerdings unerklärlichen Erscheinungen des blenden-
    den Strahlenlichts und der unheimlichen Töne, deren Zeuge
    er gewesen war, sollten ihn abhalten, die Mauer der Burg zu
    übersteigen. Eine Stunde mußte ihm schon genügen, durch
    die Galerien zu eilen, vor allem, den Wartturm genau zu
    durchsuchen, und dann, wenn er sein

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