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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Schick-
    sal nicht verdient?
    Er hatte sich erhoben, der unglückliche Doktor, und
    lauschte auf die Geräusche, die sich über diesen hohen Pla-
    teaus bemerklich zu machen pflegen, auf jenes beunruhi-
    gende Gemurmel, das zugleich wie ein Surren, ein Äch-
    zen und Stöhnen klingt. Er hörte auch, wie die Nyctalopen
    (Nachtvögel) mit schwerem Flügelschlag über die nahen
    Felsblöcke strichen, die Strigen, die zur nächtlichen Runde
    ausgeschwärmt waren, und zwei oder drei Paare jener
    Schleiereulen, deren Geschrei einer unheimlichen Toten-
    klage ähnelt. Da krampften sich die Muskeln des beklagens-
    werten Mannes schmerzhaft zusammen, daß er sich kaum
    noch zu rühren vermochte, und in eiskaltem Schweiß geba-
    det, zitterte er am ganzen Körper, als wäre sein seliges, nein,
    sein unseliges Ende nahe.
    So schlichen die langen Stunden bis Mitternacht dahin.
    Hätte Doktor Patak ein wenig plaudern können, wäre ihm
    nur dann und wann Gelegenheit gegeben gewesen, ein paar
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    Worte zu wechseln und wenigstens dem Strom seiner Kla-
    gen freien Lauf zu lassen, bestimmt hätte er sich weniger
    abgeängstigt.
    Doch Nic Dick schlief – schlief wie ein Murmeltier.
    Jetzt war es Mitternacht, die schlimmste Stunde von al-
    len, die Stunde der Hexen und Geistererscheinungen.
    Was ging denn jetzt da vor?
    Der Doktor hatte sich völlig aufgerichtet und fragte sich,
    ob er wirklich wach war oder noch unter dem Einfluß eines
    Alpdrückens stand.
    Wahrhaftig, da oben glaubte er nicht nur zu sehen, son-
    dern sah er wirklich seltsame Gestalten, beleuchtet von
    blendendem Lichtschimmer, die von einer Himmelsgegend
    nach der anderen schwebten, aufstiegen und herabwallten
    und sich mit den Wolken senkten. Es sah aus wie Unge-
    heuer, Drachen mit Schlangenschwanz, wie Hippogryphe
    mit langen Flügeln, gigantische Kraken, furchtbare Vam-
    pire, die ihn mit ihren Krallen ergreifen oder mit den riesi-
    gen Kinnbacken mit Haut und Haar verschlingen wollten.
    Jetzt schien ihm auf dem Plateau des Orgall alles in Bewe-
    gung, die Felsen, wie die Bäume, die am Waldsaum tanzten.
    Gleichzeitig schlugen noch schrille, in kurzen Zwischenräu-
    men sich wiederholende Töne an sein entsetztes Ohr.
    »Die Glocke«, raunte er vor sich hin, »die Burgglocke!«
    Es war in der Tat die Glocke der Kapelle, nicht die des
    Kirchturms in Vulcan, deren Läuten vom Wind in die ent-
    gegengesetzter Richtung verweht worden wäre.
    Jetzt folgten die Schläge einander noch schneller. Die

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    Hand, die den Klöppel bewegt, läutet damit nicht wie mit
    einer Totenglocke. Nein, das ist eine Sturmglocke, deren
    keuchende Schläge die Echos der transsilvanischen Grenze
    wachrufen.
    Das unheimliche Schwirren und Klingen erfüllt den
    Doktor Patak mit wahrhaft konvulsivischer Furcht, mit un-
    erträglicher Angst, mit so schrecklichem Entsetzen, daß ein
    eisiger Schauer den ganzen dicken Körper durchfröstelt.
    Auch der Förster ist durch die, wie drohend klingenden
    Schläge der Glocke geweckt worden. Er hat sich aufgerich-
    tet, während der Doktor wie in sich selbst zusammengebro-
    chen aussieht.
    Nic Deck horcht gespannt, und seine Augen suchen die
    tiefe Dunkelheit zu durchdringen, die die Burg umlagert.
    »Die Glocke! Die schreckliche Glocke!« platzte der Dok-
    tor Patak heraus, »das ist der Chort, der sie läutet!«
    Entschieden glaubt der ganz des Verstands beraubte
    arme Mann jetzt mehr denn je an den leibhaftigen Teufel.
    Der ruhig verharrende Förster gibt ihm gar keine Ant-
    wort.
    Plötzlich bricht ein Geheul, ähnlich dem, das die Nebel-
    hörner am Eingang von Häfen hören lassen, in lärmenden
    Tonwellen hervor. Auf weiten Umkreis hin wird die Luft
    von dem durchdringenden Geräusch erschüttert.
    Dann schießt ein Lichtstrahl aus dem Mittelturm, eine
    intensive Helligkeit, zuweilen unterbrochen durch noch
    strahlendere Blitze, durch wahrhaft blendende Lichtpfeile.
    Aus welcher Quelle stammt dieses mächtige Lichtbündel,
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    das in breitem Strahl über die Oberfläche des Orgallplateaus
    hinwandert? Aus welchem Glühofen bricht diese strahlende
    Masse, die gleichzeitig die Felsen zu entzünden droht und
    sie doch mit seltsamem fahlen Schein übergießt?
    »Nic, Nic!« ruft der Doktor, »seht mich an! Bin ich nicht
    wie Ihr nur noch ein Leichnam?«
    In der Tat haben die beiden Männer ein täuschend lei-
    chenähnliches Aussehen bekommen, ein blasses Gesicht, er-
    loschene Augen, tiefe Augenhöhlen,

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